morgana81 - gothic transgender

Sternzeit irgendwas, Logbucheintragung des Captains:

[01.01.70 / 00:00] Sternzeit irgendwas, Logbucheintragung des Captains:

[31.12.21 / 15:54] Das Jahr geht genauso unspektakulär zu Ende, wie es begonnen hat. Die letzte Woche als Spiegelbild des gesamten Jahres: Arbeiten am Computer, arbeiten an meiner eigenen Software, nebenbei Börsenkurse ansehen, abwarten, zögern, doch kein Kauf absetzen. Die eigene Gesundheit beobachten, meinen Körper, die dritte Impfung generalstabsmäßig geplant und in der lokalen Verwaltungsbehörde mit Hilfe der Armeesoldaten in olivgrüner Uniform durchgeführt (sehr effizient). Meinen eigenen Körper pumpe ich mit noch mehr Medikamenten und Hormonen voll (ich will endlich wieder ein volles A-Körbchen erreichen, wie damals vor ein paar Jahren, zur Beginn der Hormontherapie, als ich fast "scheinschwanger" war).

Die vielen Silvesterabende, die ich allein vor dem Computer verbracht habe, mein ganzes Leben, es scheint, als wären die wenigen kurzen Jahre zwischen 2015 und 2019 nur eine Ausnahme gewesen. Eine Packung Tiefkühl-Toast-Hawaii und ein paar Kroketten im Backofen ... vielleicht höre ich später noch einmal in ein Online- und Live-DJ-Set hinein, während ich weiter an meinem Computer programmiere und mich wie immer wegen dem Lärm da draußen vor meinen Dachbodenfenstern aufrege (der bis jetzt noch ziemlich verhalten ist).

Das nächste Jahr: Träume, Wünsche! Das Motorrad nach einer kompletten Saisonpause wieder flottmachen, Reisen planen, all die Ziele mit dem Zug und dem Flugzeug, die noch offen sind, immer um ein Jahr verschoben, aber niemals aufgegeben! Die Bikinifigur für den Strand halten, hatte ich mich so gefreut, daß ich wieder die magische "57 kg" erreicht hatte, kratze ich jetzt, schokoladenbedingt, wieder an der "Neunundfünfzig-Komma-nochwas". Dranbleiben...

(Ein komisches Gefühl, wenn mich der Impfarzt fragt, wie alt ich bin und mir nach einer Momentsekunde ein "Vierzig" über die Lippen läuft ... gleich die vor mir liegende Schokolade aufessen, während ich diese Zeile in mein Tagebuch schreibe.)

[24.12.21 / 22:22] "Jetzt kommt eine ganz neue Gruppe, nicht die der Impfgegner und Impfverweigerer, sondern die der Nichtwähler - die, die für sich aufgegeben haben und einfach nicht mehr Teil des Systems sind."

Geschrieben drei Tage zuvor in mein Notizbüchlein als Idee für einen Tagebucheintrag - und doch habe ich mich dazu überreden lassen, einen dritten Impftermin zu buchen, dabei hatte ich meine sechs Monate noch gar nicht um, es sind erst "fünfeinhalb". (Wie viele Impfungen da noch kommen?)

Zu etwas vollkommen, vollkommen anderem:

"Nach vierzig Jahren ist der Lack ab!"

Nicht mein Zitat - aber ein nicht ganz ernst gemeinter, liebevoller und doch in treffender Weise zynischer Spruch aus dem engsten Personenkreis zur Festtagszeit unterm Tannenbaum. Ist halt so, mußt du so nehmen. Leb damit und schmunzel weiter.

[17.12.21 / 23:42] Wer bin ich noch, im zweiten Jahr des Viruskrieges? Ohne Ausgehen, Konzerte, Festivals, durch die Welt reisen, Menschen treffen und kennenlernen. Ich bin das asexuelle, nonbinäre Etwas, das in seiner autistischen Wesensart nichts anderes kennt, als die tägliche Arbeit am Computer im Softwaretesten. Das auch in diesem Konzern demnächst "die Hütte brennt" (Streiktonnen), bekomme ich nicht mit. Die Menschen, die an mir vorbeigehen, bekomme ich nicht mit. Die Schreckensnachrichten in den Medien, die angeblich radikalen, aufrührerischen und spaltenden Kräfte, die ganze Politik drumherum, bekomme ich nicht mit. Es betrifft mich nicht, berührt mich nicht, ich schaue es mir nur manchmal verwundert an. Die ganzen verwahrlosten, sich gehenlassenden, ziellos umherirrenden Jugendlichen auf der Straße, die von allen Vergessenen ... No Future? Ich hatte wenigstens meine Zeit.
Arbeit, Kohle scheffeln, das Monatsgehalt 1:1 ins Aktiendepot reinvestieren, etwas zu essen kaufe ich mir vom Ersparten, Rücklagen der "Arbeitslosenstütze" der letzten beiden Jahre, Miete für die Wohnung zahlt die Entleihfirma (Ingenieurdienstleister). Alles, was ich darin stehen habe, ist gebraucht, geborgt, war doppelt vorhanden (Leipzig) oder ist improvisiert - so wie mein Fernseher auf einem Pappkarton steht, in einem kahlen Wohnzimmer, in dem sich sonst nichts findet, als ein Bett, ein Klapptisch und meine beiden, leichten Bistrostühle aus Aluminium ... vielleicht noch ein aufgebautes, klappriges Regal mit drei, vier Kleiderbügeln auf der Stange, mitten im Raum. Die Küche macht's mit meinem einzig investierten, neuen Kaffeevollautomaten, jeden Morgen. Direkt gegenüber zur Tür des Wohn- und Schlafzimmers hängt als Deko das Poster von dem Gothic- und Post-Punk-Konzert von vor ein paar Wochen, das einzige Konzert, das es dieses Jahr gab, für mich.

Wie lange halten die Menschen das durch? Werde ich bald auch wieder als ungeimpft gelten? Dreht sich der Kreis? Neues Jahr, neue Mutation, neuer Impfstoffmangel, Kampagne, Floskeln, Phrasen, Slogans, Propaganda und Parolen? Ich verliere das Interesse, ich kapsel mich ein, es betrifft mich nicht mehr, ihr habt mich verloren. Ich schau lieber dabei zu, wie jeden Morgen der Kaffee in meine zwei darunter positionierten, kleinen Espressotassen läuft. Arbeiten gehen, Einkaufen, Wohnung saubermachen, Fernsehen, Bett - Arbeiten gehen, Einkaufen, Wohnung...

[22.11.21 / 22:33] Da ist er, der 40. Geburtstag, es gibt nichts darüber zu schreiben oder zu sagen, was anderswo schon erwähnt wurde. Altbekannte Weisheiten: Männer werden irgendwie noch ein Stück attraktiver und Frauen irgendwie ... irgend etwas zwischen "deprimiert" und "aufgeben".
Ich stehe den späten Vorabend noch am Badezimmerspiegel in meiner neuen Wohnung und ziehe die kleinen Falten am Augenlid glatt und ... lasse es gleich wieder bleiben, winke mit der Hand meinem Spiegelbild entgegen. "Steh dazu..."
Und jetzt? Immer noch nicht verheiratet, geradezu beziehungsunerfahren - jedenfalls alles, was über kurze Liebschaften hinausgeht. Weiblich, Vierzig, Single. Ich teile meinen Geburtstagskuchen nicht, stopfe alles in mich hinein und hoffe, daß niemand überhaupt etwas bemerkt und wohlmöglich mir noch gratulieren will. "Na, wie alt bist du denn jetzt geworden?" - Hau bloß ab...
So mit "50" könnte ich vielleicht wieder anfangen, zu feiern, das wäre dann ein runder Geburtstag (und erst dann die Hälfte zur "100"). Bis dahin ... ein schönes Geschenk: Ein kleines, buntes, Teeservice, für eine Person, für nette Nachmittage allein.

Angekommen in meiner Dachgeschoßwohnung für "unter der Woche", mein Leben besteht eigentlich nur noch aus dem "Nine-to-Five-Job" im Büro, nach Feierabend im Discounter Einkaufen gehen (aka "Einkaufswagen schubsen"), Nahrung und Reinigungsmittel kaufen, Frühstück und Abendessen und Putzen und die Wohnung sauber halten (mehr oder weniger). Danach Fernsehen (wenn etwas drauf ist). Einen Computer und Internet habe ich hier nicht, wozu auch? (Text geschrieben von meinem Smartphone.)

Neuerdings kitschige Deko-Blumen kaufen und die Wohnung einrichten...

[12.11.21 / 21:34] Nachtrag etwa zwei Wochen später: Abgesagt! Was mache ich denn jetzt? Tieftraurig nehme ich zur Kenntnis, daß auch im zweiten Jahr das kleine Post-Punk-Festival in Leipzig nicht stattfinden wird. Meine Sachen bleiben im Schrank, meine Stiefel, meine schwarze Tunika, mein grau-kariertes Röckchen, für das ich mich zusätzlich entschieden hätte. Wenigstens war ich mal kurz lebendig, das eine Wochenende vor zwei Wochen.
Die Zahl der Infektionen in dieser verdammten Pandemie steigt exponentiell, sie ist höher als jemals zuvor... Wo sind die ganzen Leichen auf den Pflastersteinen und Gehwegen, an jeder Ecke, wie zu tiefsten Pest-Zeiten im ebenso tiefsten Mittelalter? Das alles passiert nur in den Fernsehnachrichten, im echten Leben buchen sich die Menschen abenteuerliche Flugreisen in exotische Länder (ja, ich bin neidisch), feiern Partys, drängeln sich in Kaufhäusern und Supermärkten und Tankstellen und Büros ... und ich sitze hier und kann schon wieder nichts machen.

Konsum.

Ich erfreue mich stattdessen (oder ersatzweise) in meiner neuen Dachgeschoßwohnung im Speckgürtel von Braunschweig (SZ-XXX, halb Dorf, halb City) an meinem neuen, italienischen Kaffeevollautomaten, gab es im Discounter um die Ecke für einen "supergünstigen" Preis.

[31.10.21 / 16:48] Da bin ich wieder, Sonnabend Abend auf der Autobahn Richtung Connewitz. Mein Outfit für den (vor-)letzten Tag des Oktobers: Vampirella? Witchcraft? Die ganze Woche vorher schon überlegt und ich entscheide mich letztendlich doch dagegen - den schwarzen Dress mit den ultraweiten Tunika-Ärmeln und die attraktive, schwarz-grüne Unterwäsche (BH und Slip) mit floralem Muster behalte ich für die nächsten, kommenden Wochenenden noch im Schrank. Für das Konzert diesen Abend im Süden von Leipzig trage ich standardschwarz. Kapuzenpullover, Lederjacke und die eng sitzende Jeans ... nur die halbhohen, italienischen Lederstiefeletten werde ich dann mit beiden Outfits kombinieren (also auch das für die nächsten Wochenenden).
Make-up: Routiniert, alles paßt wieder. Feuchtigkeitscreme, dann Kajal, Mascara, Wimpern- und Augenbrauenbürste - den Rest des Körpers habe ich schon den frühen Sonnabend Nachmittag von den ganzen Haaren befreit ... außer der Intimbereich (ich stehe darauf) und die langen, blonden Haare auf dem Kopf natürlich. Keine Ohrringe, die schulterlangen und offen getragenen Haare verdecken den "Knubbel" am Ohr. Allgemein meine Schmuckauswahl - zu dem von mir für diesen Abend favorisierten, schwarzen Netztop trage ich den Ganesha-Anhänger an der schwarzen Schnur - wie jeden Tag - und mein indisch anmutender, silberner Armreif, der mit den Zirkoniasteinen - auch wie jeden Tag.
Bereit für die Autobahn, im Gegensatz zu der A2 ist die A14 sehr entspannt - ich lag die Nächte schon wach in dem Hotel in Salzgitter und war mir nicht mehr sicher, ob ich das hunderte Kilometer Hin und Her auch verkrafte, der Freitag Abend zurück zu meiner Wohnung / Erstwohnsitz in der Nähe des Kreuzungspunktes A2 und A14 war schon kritisch. Zu übermüdet. Der Sonnabend geht wieder ... ich höre meine ganze Musiksammlung am Lenkrad meines roten Roadsters durch. Ich habe das Gefühl, die letzten Wochen lebe ich nur noch hinter dem Steuer, rechts und links und vor mir die Autobahn.
Leipzig-Connewitz. Krawall? Die zünden mein Auto nicht an. (Ich gehöre doch dazu.) Das linksalternative Zentrum im Südteil der Stadt ist mir vertraut, kurz nach 19 Uhr parke ich mein Auto in der dunkelsten Ecke und gehe rüber auf das Gelände, viele Besucher sind vor dem offiziellen Einlaß noch nicht da. Erst nach und nach kommen die ersten Gäste für das Konzert ... die schon leicht grauhaarigen "Alt-Grufts", die ganz sicher schon seit dem Sommer ihre beiden Impfungen hatten (die in der Risikogruppe). Mein Impfzertifikat auf meinem Smartphone wird auch irgendwo zwischen dem Café (mit Gnocchi à la carte), der Halle mit dem Indoor-Konzert und dem offenen Freigelände von einer netten Mitarbeiterin überprüft. Über mir die tiefschwarze Nacht und die hell angestrahlten Bäume mit dem Herbstlaub.
Einlaß, QR-Code scannen und einchecken - die bessere App mit dem viel besseren Datenschutz. Ich betrete die Halle mit der Konzertbühne: "Woah..." (All die Lichter...) Breites Grinsen, nicht mein erstes "Event" nach ganz langer Zeit, aber immer noch ein unbeschreibliches Gefühl. Eine Flasche Club Mate bestellen und die alte Ecke mit meinem Lieblingssitzplatz suchen, "Leute schauen", habe ich in Wien gelernt.
Zuerst dachte ich, der Typ an der Garderobe hat heute Abend den entspanntesten Job, so viele Gäste kommen nicht und die die kommen, tragen ihre schwarzen Kapuzenpullover, so wie ich, noch das ganze Konzert lang, herbstlich kalt draußen ... doch nach und nach füllt sich die kleine Halle. Aufgrund der behördlichen Anordnungen und Genehmigungen ist die Anzahl der Personen und der Ticketverkauf begrenzt, bzw. reglementiert - und trotzdem wirkt das Ganze doch wie voll, nur eben jetzt mit mehr Platz zum Bewegen zwischen dem Publikum ... eigentlich ganz angenehm für mich - und niemand tritt mir auf die Füße.
Der erste Auftritt, der erste Solokünstler des Abends an seinem aufgebauten Synthesizer-/Sequencertisch und Mikrofon, sein Soloprojekt (ich habe die Alben des anderen Musikprojektes) - EBM bewegt die Maße. Tanzbar. Und mein erstes Konzert, als Zuschauerin im Publikum, nach mehr als anderthalb Jahren ... ich muß einfach wieder tanzen.
Die Umbaupause zwischen den Auftritten nutze ich für einen Gang zur Bar, das nächste Getränk bestellen, vielleicht einen Weg auf die Toilette - gendergerecht aufgeteilt für "mit" und "ohne" Urinal - und, um ein paar Blicke auf mich zu ziehen, mein Kapuzenpullover verschwindet, fein säuberlich aufgerollt, in meiner großen Handtasche. Jetzt bin nur noch ich mit meiner Punkerkutte, den halbgeschlossenen Reißverschluß, den Buttons und Nieten und dem Ausschnitt meines Netztops sichtbar. Nun zu der traurigen Nachricht: Die Band, die ich unbedingt sehen wollte, die auf deren Auftritt ich jetzt seit Anfang 2020 gewartet hatte, für die ich immer wieder nachgeschaut habe, ob der Konzerttermin endlich stattfindet und nicht mehr weiter verschoben wird, diese Band tritt an diesem Abend nicht auf. Einsam und verlassen steht ihr Name auf den Konzertplakaten unter denen der anderen beiden Bands. Ich weiß, daß sie erst vor kurzem einen Auftritt in Berlin hatten ... sie haben also überlebt.
Gleich überleitend zum Headliner und Nummer Eins auf dem Plakat - ich habe keine einzige ihrer Platten, sie haben so viele Singles und EPs veröffentlicht, daß ich gar nicht den Überblick habe. Vielleicht entdecke ich später eine Live-Aufnahme oder irgendwie ein "Greatest Hits" am Merchandise. Gesehen habe ich die Band schon vor ein paar Jahren irgendwo anders in Leipzig, für sie ist es ihr erstes Konzert im internationalen, europäischen Ausland seit der endlos langen Zeit des Lockdowns und der Isolation. Ich erkenne ein paar ihrer gespielten Songs wieder, sie sind einfach Klassiker ... oder aber irgendwo auf Samplern als Einzelstücke in meiner Plattensammlung tief verkramt. Diese Band ist für ihre aufwendigen Visuals und Multimedia-Performances bekannt. Ich wünschte, ich wäre auch so kreativ und talentgesegnet. (Ich brauche auch so ein Musikvideo für meinen "Klangmatsch".) Beeindruckt von der visuellen Präsenz, staunend im Publikum...
Später, auf der Autobahnfahrt zurück, habe ich schon die nächsten Ideen für meine Musik oder den Remix, den ich schon seit fast zwei Jahren angehen will. Die Band beendet den Konzertabend mit einer Zugabe und - dazwischen - der obligatorischen Feedbackschleife. Am Merchandising-Stand sind nur noch ein paar Vinyl-EPs und eine größere Platte über, vom Cover her eher eine Maxi-Single. Links daneben auf dem Tisch liegt ein Stapel Plakate mit dem Termin für den heutigen Abend, sie waren wohl nicht mehr zum Aufhängen gedacht, nachdem klar wurde, daß eine Band "fehlt". Es steht kein Verkaufspreis da, sie sind kostenlos zum Mitnehmen? Ich bin eine von vielen, die einfach zugreift. Zusammengerollt und mit einem Haargummi fixiert, schaut die Rolle im A2-Format zur Hälfte aus meiner Handtasche heraus, als ich schon wieder auf dem Weg nach draußen bin. Ein DJ spielt zwar noch, aber eine Diskoveranstaltung ist für diese Nacht eher nicht geplant. Gegen Mitternacht am Ausgang, den schwarzen Kapuzenpullover wieder überziehen, den Reißverschluß der Punkerkutte zuziehen, schnell noch einen Flyer einstecken (auch wenn das Datum schon abgelaufen ist) und zu Fuß in die Dunkelheit der Nacht zu meinem geparkten Auto, das unversehrt immer noch da steht. Es ist eine friedliche Gegend.
Die Nacht durch die Straßen von Leipzig ... würde ich hier noch wohnen, wäre ich schon zu Hause. Die Nacht weiter auf der Autobahn ... ein Fuchs wirft einen Schatten im Scheinwerferlicht. In Leipzig habe ich schon einen Igel gefahrlos vor mir die Straße überqueren lassen (so mit Anhalten und egal, wer hinter mir steht).
Die Nacht ist wieder diese Zeitumstellung, eine Stunde mehr für den Sonntag, ich schaffe es innerhalb des Zeitraums von 0:15 Uhr am Parkplatz bis 1:30 Uhr in meiner Wohnung vor dem Badezimmerspiegel mit den Halogenlampen. Make-up entfernen, den schwarzen Lidstrich und die Wimperntusche auf den angefeuchteten Tüchern. Meine Sachen im Zimmer verteilen, keine Gedanken an den nächsten Tag, einfach einschlafen. Zumindest die Stiefel ziehe ich in drei Wochen wieder an, dann bin ich wieder für ein kleines Festival im Süden von Leipzig ... wenn es stattfindet. (Aber ich könnte mein Outfit jetzt auch so die nächste Woche "auf Arbeit" tragen?)

So viele Menschen vor der Bühne und der Gedanke, wenn du "es" einatmest, hat es dich dann erwischt und du bist innerhalb der nächsten 14 Tage tot? Allein dieses Gedankenspiel läßt erahnen, wie die Welt in der Szene in den postapokalyptischen Achtzigern ausgesehen haben muß ... Umweltgifte, Atomkrieg und eine grassierende, das Immunsystem angreifende Virusepidemie. Wir sind keinen Schritt weiter.

[23.10.21 / 19:34] Arbeit ist Scheiße. (Aber ich brauche die Kohle.) Als "Externe" in einem Entwicklungsbüro für "Externe" auf dem Werksgelände - das sogenannte Büro ist ein zwanzig Jahre alter Containerkomplex (leicht heruntergekommen), die Toiletten funktionieren mal ab und zu - und für die Frauentoilette muß ich bei strömenden Regen, quer über den Parkplatz, in das Nachbargebäude laufen und Etage für Etage hochklettern, bis ich eine funktionierende und nicht verschlossene Toilette finde. Gilt alles als Arbeitszeit...
Die Arbeit ... mache ich denselben Kram nicht schon seit fast zehn Jahren? Fahrt bloß nicht mit dem Regionalzug rund um London. Den habe ich (mit) bei meinem alten Arbeitgeber vermurkst (konnte den Fehler nicht finden, nur reproduzieren). Den neuen, nicht weiter näher genannten Arbeitgeber (so viele mit Zügen gibt es ja nicht) versuche ich mit etwas besserer Arbeitsleistung zu beglücken, immerhin will ich auch mit den Zügen fahren (und nicht wegen Softwarefehlern "betriebsbedingt" auf den Gleisen stehen bleiben).
Seit drei Wochen als Leiharbeiterin/Lohnsklavin in einem Hotel wohnen, Freitag Abend auf der Autobahn zurückfahren, den kleinen Koffer auspacken, den Sonnabend vor dem Computer und auf der Fernsehcouch versacken, den Sonntag Nachmittag alles wieder in den Koffer schmeißen, zuklappen und den Sonntag Abend wieder zurück in das Hotel fahren? Wo ist mein Leben geblieben, alle meine Träume... (Ich brauche mindestens einen "Computerfreien" Sonntag.)
Home Office? Ja das geht ... aber nicht stundenlang vor dem Couchtisch. Immerhin bin ich jetzt nicht mehr so sekundengenau mit dem Aufschreiben der Arbeitsstunden - grob plus-minus fünf Minuten ist vollkommen OK. Wenn ich das zwölf Arbeitstage so mache, ist das dann schon eine ganze Minusstunde, die im unregistrierten Nirwana verschwindet? Vertrauensarbeitszeit... (Auf meine 300 alten Minusstunden will ich nicht wieder kommen.)
Arzttermine - die wußten, worauf sie sich bei mir einlassen. Nach den ganzen Internetrecherchen und YouTube-Videos ist das bei mir am Ohr wahrscheinlich (nach Eigendiagnose) ein wuchernder Keloid (tritt interessanterweise vermehrt bei dunkelhäutigen Menschen auf) und ich muß mich wohl von einem Ohrloch langfristig trennen (meine schönen Diamantohrringe!), die schwierige Behandlung könnte ewig dauern ... und noch hat der darauf spezialisierte Chirurg das noch nicht angesehen, der Termin steht noch aus (ein halbes Jahr Wartezeit und drei oder vier Überweisungen später). Die Hoffnung (daß es doch etwas anderes ist) stirbt zuletzt.
Die Wohnungssuche ... eine kleine Ein-, Zwei- oder Dreizimmerwohnung, unter 55m², bezahlbar und mit möblierter Küche im Raum Salzgitter? So viele Angebote sind da jetzt nicht, die erste, die ich mir angesehen habe, war ein "Rattenloch", mit viel Liebe und Aufwand vielleicht noch zu renovieren, aber die Substanz der 60er-Jahre-Blöcke in dem einen Ort mit ganz viel Migranten-Anteil ist doch nicht ganz so ... überzeugend. Und ich dachte, die vielen arabisch- und türkischstämmigen Stadtteilbewohner könnten dem Ganzen ein mediterranes Flair geben, funktioniert aber nicht in dem miefigen (West-)Deutschland. Nur weg von hier...
Eine kleine Dachgeschoßwohnung in einem (ehemaligen) Dorf südlich von Braunschweig (meine zweite von zwei Wohnungsbesichtigungen) ist mein Favorit ... wenn ich nachweisen könnte, daß ich vertrauenswürdig bin und immer pünktlich meine Miete zahle. Als noch vor kurzem langzeitarbeitslose Transfrau mit psychisch instabiler Vergangenheit...
Alles, was ich jetzt noch auf dem Girokonto hab', hau' ich raus, in mein Aktiendepot (bis ich noch im "Dispo" lande), in der Hoffnung und den Träumen, möglichst bald von den ominösen 4% Wachstum (FIRE) auf unterstem Einkommensniveau leben zu können. "Oh, was ist das? Gold-Zertifikate. Das kaufe ich jetzt auch mit ein und mische es mit in mein Depot! Kann ja nicht schaden." Und schon wieder ein paar Hunderter weg, im Onlinebanking. (Von dem Geld hätte ich mir nur auf Reisen sündhaft teuren "Diamant-Tineff" gekauft.)

Ich ändere dann mal wieder meinen Berufsstatus auf meiner Profilseite, neu: "Projektingenieurin / Wochenend-Webmistress" (english: "project engineering / weekend webmistress") - und hier das Backup für davor und danach: "langzeitarbeitslose Ex-Psychiatriepatientin / Webmistress" (english: "long-term unemployed ex-psychiatric patient / webmistress"). Mal sehen, wie lange ich das dieses Mal durchhalte...

[02.10.21 / 00:43] Ich habe ein Ticket? Ich habe ein Ticket! ICH HABE EIN TICKET! Seit Anfang des Jahres 2020 - oder noch viel länger? So genau weiß ich das jetzt gar nicht mehr - aber bestimmt schon mehr als anderthalb Jahre beobachte ich im Internet die Konzerttermine und die Seiten der Online-Shops mit den Tickets. "Veranstaltung verschoben", "Konzert fällt aus", "...wird auf Herbst 2020 verlegt" (oder so ähnlich) - und dann immer weiter verschoben, bis jetzt der Termin Ende Oktober 2021 steht. Bleibt es dabei? Ich will die Band unbedingt sehen, ich muß sie sehen, sie treten in Leipzig auf, tatsächlich bin ich noch viel mehr an der Vorband als an dem Haupt-Act interessiert ... kommen die denn auch?
Die alten Tickets blieben die ganze Zeit über gültig, neue Tickets gab es bis vor ein paar Stunden oder Tagen noch gar nicht. Ähnlich kurzfristige Konzerte mit ähnlichen Bands waren in kurzer Zeit ausverkauft - die Veranstaltungen finden mit der 2G-Regel statt. Nur Geimpfte oder Genesene - und nur höchstens 200 Personen! (Indoor?) Nervenkitzel ... ich habe meinen Ticketkauf die letzten 12, 18 oder 24 Monate immer vor mir hergeschoben, in unklarer Erwartungshaltung, ob das Konzert denn jetzt wirklich irgendwann stattfindet - und wenn, kriege ich dann überhaupt noch eine Karte ab? Hoffentlich...
Ich weiß, da tut sich gerade viel, die Bands spielen kurzfristig an allen exotischen Orten, im kleinen Kreis, hier und da waren schon kleine Festivals möglich - und ich habe es dann viel zu spät erfahren! (Ich bin nicht vernetzt...) Zu groß ist jetzt meine Verblüffung, daß ich auf einmal wieder ein Ticket kaufen konnte ... so surreal! (Schon wieder...)
Auf nach Leipzig in vier Wochen, die tiefschwarzen Gothic-Klamotten anziehen (als ob ich die nicht jeden Tag tragen würde) und zu einem Konzert fahren ... so viel könnte jetzt noch schiefgehen, daß es wieder abgesagt werden muß. Und kann ich dann (neuerdings) den Freitag Nachmittag auch früher von der Arbeit weg? (Ein anderes Thema ... die wissen noch gar nicht, welche verrückte Irre da demnächst ihren ersten Arbeitstag hat - und um "9:00 Uhr früh" aufschlagen muß.)

[26.09.21 / 23:38] In eigener Sache (mit Triggerwarnung):

Du planst Dich umzubringen? Es gibt bestimmt tausend gute Gründe, die dafür sprechen, denen ich Dir nicht im Weg stehen will, aber … Die zermürbende Transphobie, derer Du ausgesetzt bist, all die Diskriminierung, und das Mobbing, das Scheitern an der Gesellschaft, die fehlende Akzeptanz, vielleicht sogar der Stillstand Deiner Transition und das sich verloren fühlen im bürokratischen Machtsystem – ist kein guter Grund.

Tue es nicht!

Es zerreißt einen das Herz, auf Mahnwachen und Gedenkveranstaltungen, der Worte ringend, in Trauer zurückgelassen zu werden, zu wissen, das hätte jetzt nicht sein müssen. So viele Transfrauen sind von uns gegangen, zu viele.

An die Mitmenschen, bleibt achtsam, geht auf Sie zu, wenn ihr etwas spürt. Sie wird es verneinen, aber allein Ihr wissen zu lassen, daß wir da sind, ist schon ganz viel wert.

[24.09.21 / 18:20] Sie wollen mir unbedingt einen Arbeitsvertrag anbieten ... alle meine Ansätze der Eigensabotage laufen ins Leere. Vor vier Wochen, Ende August, der erste Vorstellungstermin, auf der Autobahn in Richtung Braunschweig und Salzgitter, zu dem kleineren Ingenieursdienstleister für das Projekt. "Ich muß jetzt mal den Reißverschluß meiner Punkerkutte zumachen, die ist jetzt nicht so seriös."
Drei Wochen später, Mitte September, der Vorstellungstermin beim Kunden, auf der Autobahn erneut Richtung Braunschweig und Salzgitter, in das Werk und den Arbeitsplatz besichtigen. Einstellungstest, drei von vier Aufgaben bearbeite ich gleich gar nicht. "Da habe ich jetzt keine Erfahrung mit." Nur die eine Aufgabe mit der akribischen Spezifizierung von Testfällen - also genau das Fachgebiet, in dem ich jahrelang gearbeitet habe - wird von mir detailliert auf einem Extrablatt mit Notizen und Lösungsansätzen versehen. Mist...
Eine Woche später, vor einem Tag, der Termin für die Vertragsunterzeichnung beim größeren Ingenieursdienstleister für die Personalgewinnung und -verleih. Noch einmal auf der Autobahn über die Landesgrenze Richtung Niedersachsen (und mit dem Navi total in Braunschweig verfahren). Im Bürokomplex im Konferenzraum der Niederlassung die Papierblätter vor mir auf dem Tisch: "Und ihr habt euch wirklich vorher mein Arbeitszeugnis durchgelesen?" Das Beschissene, mit dem ich nie wieder hätte Arbeit finden können. Meine Deadline für den vollständigen Ausstieg aus der IT-Branche war von mir auf Ende dieses Jahres festgesetzt, ab da hätte ich keine weiteren Bewerbungen mehr geschrieben. Ich zögere ... den Stift mit der dokumentensicheren Tinte in der Hand - und kritzle meine Unterschrift in die letzte Signaturzeile. Schon wieder die Seele verkauft.
Gedanken, ich könnte über eine Kette von zwei Ingenieursdienstleistern und einem Endkunden (ein nicht näher genannter, anderer großer Konzern) meine alte Arbeit wieder aufnehmen, nur jetzt eben bei der Konkurrenz (mit all meiner Erfahrung). In wenigen Tagen geht es plötzlich wieder los, das "Roboten", es reißt mich geradezu aus meinem asozialen Alltag und meinen Träumen, als "Bahnhofspunk" irgendwo herumzugammeln (bis jetzt hat da noch kein einziger auch nur einen Bruchteil eines "Crypto-Coins" in mich investiert, siehe mein Banner weiter unten, bzw. die Tagebucheinträge der letzten Monate).
Unterkunft / Hotelzimmer für die ersten Wochen wird gestellt, danach muß ich mir eine neue Zweitwohnung anmieten - das Stück Autobahn pendel ich nicht jeden Tag (die Spurwechsel in der Rush-hour, die endlos langen LKW-Kolonnen). All mein Wohnungsinventar ist doppelt vorhanden, seitdem ich meine alte Wohnung in Leipzig aufgeben mußte (ich schleppe jetzt nur nicht noch einmal den großen Kleiderschrank umher). Die Wohnung, die jetzt kommt, wird eine reine "unter der Woche" Arbeitswohnung - so wie 2008/2009, das WG-Zimmer für meine Diplomarbeit in Hannover (oder wie davor, zwischen 2002 und 2008, für 11 Semester, die Bude in dem Studentenwohnheim in Wernigerode).

Es tut sich etwas in meinem Leben, ich könnte die Chance nutzen und wieder mit Arbeiten anfangen. Kohle scheffeln, Geld verdienen, an eine Karriere glauben, die ganze Knete wieder für Luxus ausgeben. Teilzeitvertrag, keine 40 Wochenstunden mehr, Option auf Home-Office, 30 Tage Urlaub im Jahr, um die Welt reisen...

[05.09.21 / 20:40] "One drink for those who didn't survive the past 1 ½ years." Mein erster Discobesuch nach anderthalb Jahren. Die Routine vor dem Badezimmerspiegel ist noch nicht wieder zurückgekehrt, zeitlich ist alles OK (und ich bin dann auch pünktlich am Einlaß) ... aber die Abläufe? Erst Mascara und dann Kajal? Erst Feuchtigkeitscreme im Gesicht und dann Zähneputzen - und die ganze Foundation wieder wegwischen? Irgendwie kriege ich das den Sonnabend um 21:30 Uhr doch wieder hin, die Sachen zum Anziehen habe ich den Tag schon ausgewählt, mein schwarzes Spitzenkleid aus Wien passend zu den viktorianischen Stiefeletten - die ich auch schon zuletzt in Wien anhatte. Kleid aus dem Kleiderschrank den Nachmittag zum Lüften rausgehängt, Schuhe üppig mit neuer schwarzer Schuhcreme geschmeidig gepflegt (und glänzend poliert). Den Abend kurz unter die Dusche (und dann Make-up), die Haare durchgekämmt - ein Sprühstoß Patchouli-Chanel kopfüber auf den Nacken. Kein Push-up, ich wähle einen flacheren BH. Keine silbernen Ohrringe, nur mein Armreif mit Zirkoniasteinen und mein indischer Anhänger ... speziell auf die geliebten Ohrringe muß ich verzichten, das Ohrloch rechts ist in der veranstaltungslosen Pandemie-Zeit zugewachsen und ein anderthalb Zentimeter großer Tumor versperrt den Weg (wird demnächst noch wegoperiert).
22 Uhr, ich hole mein Auto aus der Garage, es ist kalt den Septemberabend. Zusätzlich zu meiner Lederjacke habe ich noch den schwarzen Wollschal mit in meine schwarze Lederhandtasche gepackt. Im Auto auf der kurzen Fahrt nach Magdeburg gehe ich noch einmal laut alles durch: "Impfausweis - Check! FFP2-Maske - Check! Personalausweis - Check! Smartphone - Check! Geld und Portemonnaie - Check! Schal zum Umhängen für den Fußweg nach der Disko wieder zurück - Check! Wohnungs- und Haustürschlüssel? Check!" Ich glaube, ich habe alles dabei.
Magdeburg ... das letzte Mal, daß ich hier die Nächte zum Tanzen ausgegangen bin, muß ewig her sein. Jahre ... Jahrzehnte! Der Weg über die Schnellstraße in der Landeshauptstadt ist derselbe, über die ein oder zwei Dörfer davor gibt es eine neue Hochstraße als Umgehung ... die ist wirklich neu, ich schleiche auf der ungewohnten Route im Dunkeln so dahin, die Signalbaken leuchten im Scheinwerferlicht.
In Magdeburg selbst habe ich vorher im Internet nach passenden Parkplätzen gesucht: Ah, da hinten da, um die Ecke, um den Friedhof! Ja, da parke ich gerne. Der Club selbst ist im Süden von Magdeburg, in einem alten Bahnhofsgebäude (oder so ähnlich). Seitdem ich da mal aus der S-Bahn ausgestiegen bin, ist mir der aufgefallen. Die Gothic-Szene in Magdeburg ist nicht besonders groß, abgesehen von dem einen Festival 2004 und 2005 und meinen ersten nächtlichen "die Nacht ausgehen zum Tanzen" in dem anderen Club dort irgendwo in der Nähe, ist immer noch nicht viel los in in dieser Stadt. Nicht wirklich so, wie in Leipzig...
Einlaß 23 Uhr, ich bin nervös, mein Auto steht nicht weit, ich krame alles was ich brauche aus meiner Handtasche, stecke den Personalausweis, das Smartphone mit dem Impfzertifikat und meine Maske für das Gesicht in meinen Jackentaschen hin und her. Die schwarzen FFP2-Masken habe ich mir den Mittag noch extra in einer Drogerie gekauft ... die weißen Filterdinger wären ja für den Anlaß total uncool und "ungruftig"! Überhaupt nicht Gothic. So viele schwarze Gestalten (und modekritische Blicke) stehen jetzt aber nicht am Eingang. Nur so ein paar, wie ich, Ältere eben. (Die, die altersgemäß schon in der Risikogruppe zum Impfen waren?)
Einlaß gestaffelt, ich war hier noch nie, erkunde staunend die ersten Meter hinter der Tür - OK, so groß ist der Club nicht, aber es gibt zwei Tanzflächen und ultraviel Nebel ... in dunkler Beleuchtung! Könnte passen! Meine schwarze Gesichtsmaske fällt als erstes, es besteht keine konsequente Tragepflicht, noch keine Amsterdam-Zustände (erst wenn die Zahlen den Herbst und Winter wieder steigen, nachdem alle mal kurz die Nächte frei und voller Leben ausgehen konnten). Getränk an der Bar, Reißverschluß der Gothic- und Punkerkutte öffnen, Buttons und Patches in der wechselnden Farbbeleuchtung anstrahlen lassen, im Nebel versinken und den ersten Titel tanzen. So bizarr! Die Nacht vorher habe ich mir schon ausgemalt, welche Titel ich als DJane spielen würde, welche mir so vertraut sind, welche mich anfangen lassen, zu tanzen. "Sleeper In Metropolis" - Anne Clark. Ich bin so euphorisch, voller Glücksgefühle, ich muß meinen "Status" online in dem Messenger auf dem Smartphone verbreiten.
Die Getränkekarte (oder Bon) füllt sich die nächsten zwei Stunden mit gestanzten Löchern, ich bestelle nach und nach eine alkoholfreie Cola nach der anderen. Die zweite kleine Tanzfläche ist jetzt auch offen, ich wechsele durch die vernebelten Gänge hin und her. Einmal werde ich auch angequatscht, aber ich lasse mir kein alkoholhaltiges Getränk ausgeben. Sorry, für dich. Ich suche die kleinen Toiletten im Keller (unisex?), sitze mal auf einer Art Couch (sofern ich das im Dunkeln erkennen konnte), stehe mal draußen vor dem Eingang mit den anderen Rauchern, verpasse innen wieder einen guten Titel (entweder von Mephisto Walz oder Skeletal Family - jedenfalls eine Band von meinen Buttons an der Jacke) und starre dann doch wieder in der Sitzecke einsam auf mein Smartphone ... die Plätze neben mir sind (manchmal) frei. Die Gedanken hängen an meinen Ex-Freund ... jede meiner vermissten Ex-Liebschaften, zu denen der Kontakt abgebrochen ist, ist für mich automatisch gleichbedeutend wie tot. Höchstwahrscheinlich ist er in der Pandemie und der depressiv machenden Isolation an Alkohol, Sucht und Drogen draufgegangen - und hat es nicht überlebt.
2:30 Uhr, draußen ist es wirklich kalt geworden. So viele Gäste sind hier nicht mehr in der Gothic-Tanzveranstaltung (das Alter). Auch ich wollte nicht länger bleiben und zeitig wieder die Nacht auf den Sonntag zurückfahren. Nach 18 Jahren Tanzen hält das kleine Nietenhalsband mit dem Druckknopf-Verschluß nicht mehr an meinem Stiefel. Es versinkt in der Handtasche, ich ziehe draußen vor dem Eingang des Clubs stattdessen meinen schwarzen Schal aus meiner Lederhandtasche, wickle ihn wärmend um meinen Hals, prüfe die zugezogenen Reißverschlüsse an meiner Jacke und stiefele in meinen Absätzen meinem geparkten Auto entgegen. Den Club kann ich mir merken - aber alleine ist doof.
Mein roter Roadster auf dem Parkplatz am Friedhof - und er ist immer noch nicht aufgebrochen (entgegen der schlimmsten Befürchtungen meiner Eltern). Die Straße zurück zu meinem Wohnsitz, die Straßen im Schein der Laternen durch Magdeburg, die ich mit meinen Vorgängerautos schon vor zehn oder zwanzig Jahren nach der Disko zurückgefahren bin, die Ausfahrt an der Schnellstraße, der Weg im Dunkeln durch die kleinen Ortschaften, die Straße zurück in das Wohnkaff. Als Jugendliche warst du hier echt aufgeschmissen, wenn du nicht mobil warst. Wie haben das die Jugendlichen jetzt erlebt, als für mindestens 18 Monate pandemiebedingt alles dicht war und es nichts zum Ausgehen gab? Unvorstellbar...
Zurück in meiner Wohnung im Dachgeschoß, wie damals am laut bellenden Hund meiner Eltern im Erdgeschoß vorbeidrängeln (guter Wachhund), oben in meiner Wohnung in meinem Badezimmer vor dem riesengroßen Spiegel mein Make-up im Gesicht entfernen, meine schwarzen Klamotten auf allen Kleiderbügeln in meinem Zimmer verteilen. Der zum Jahreswechsel begonnene Umzug in die größere Wohnung unter mir, zieht sich so dahin. Hier auf diesem Dachboden habe ich schon als Siebzehnjährige gewohnt und bin ganz langsam in die Gothic-Szene abgedriftet...

4 Uhr nochwas ins Bett und Frühstück mit Kaffee dann gegen Sonntag Mittag wieder unten bei meinen Eltern.

[24.08.21 / 00:21] The Good Ole Days. Zurück in das Jahr 2011 - als ich noch mit einer fetten Sonnenbrille im Gesicht und in schwarzen Klamotten ein paar hundert Meilen die Interstate Richtung Vegas entlang gedonnert bin. Das Make-up ist mir bei einem Fotostop in der Wüste schon längst zerlaufen, die schulterlangen, blonden Haare hängen mir am Steuer des Mietwagens schlaff herunter ... aber das war es wert! Ein wahnsinniges Gefühl von grenzenloser Freiheit durchströmte meinen Körper...
Hintergrund: Ich habe mir mal wieder den Film "Blues Brothers" im Fernsehen angesehen und ein altes Foto von mir hervorgekramt. Jetzt neu nachbearbeitet mit geänderten Gammawert für die Details und Ausleuchtung im Fahrzeuginnenraum (ich hoffe, der Bartschatten ist untergegangen), ein Zuschnitt auf das Seitenverhältnis 1.85 (wie im Film) und als Farbkorrektur meine obligatorische Technicolor-Farbpalette (tatsächlich sind die CMY-Werte von einer alten Kodak-Schachtel abgescannt). Letzterer Postproduktionsfilter liegt seit Jahren auf allen meinen Fotos.

[16.08.21 / 02:08] Der CSD 2021 in Magdeburg - das zweite Jahr unter erschwerten Bedingungen. Die Nacht davor war schlaflos, ich mußte ja auch um Mitternacht noch unbedingt meine Mails lesen, bis zum Sonnenaufgang in einem Gedankensturm festsitzen und um kurz nach 5 Uhr nochwas eine von meinen berüchtigten Mails zurücksenden (es ging um einen hier vollkommen themenfremden und letztendlich von mir abgesagten Bewerbungstermin irgendwo im Nirgendwo, dem ich nicht mehr psychisch gewachsen bin). Dasselbe Spiel, den Wecker ausschalten, alle Planungen für den nächsten Tag verwerfen, unter Tränen einschlafen - und nur etwa vier Stunden später den Sonnabend Vormittag dann doch wieder aufwachen.
Es ist nicht für umsonst! All die Energie, die ich in die Zusammenstellung meines Outfits für diesen CSD gesteckt habe, die Tage vorher schon bereit gelegten und frisch gewaschenen Sachen auf allen Kleiderbügeln in meinem Dachbodenzimmer verteilt. Das grüne Häkeltop, das ich zuletzt in Sri Lanka an hatte, mein langer indischer Rock, den aus Rajasthan, den ich zuletzt letztes Jahr in dem Kurztrip auf die Burg getragen hatte. Mein ausgewählter Silberschmuck, der silberne Armreif und mein Ganesha-Anhänger aus Ibiza. Ein Sprühstoß aus meinem geliebten und so lange vermissten Chanel-Parfüm (das mit Patchouli) vor dem Spiegel im Badezimmer nach dem Duschen und Frühstück und ich bin wieder teilweise lebendig. Die alte Hippie-Tante geht aus.
12 Uhr wäre das CSD-Programm am Alten Markt in der Innenstadt von Magdeburg gestartet, die Demo selbst eine Stunde später, um 13 Uhr. Ich muß nicht da sein, es fängt auch alles ohne mich an. Ich kann mir soviel Zeit lassen, wie ich will, mich in Ruhe weiter vorbereiten und alles langsam angehen. Den Startpunkt der Demo erreiche ich nicht, ich parke meinen roten (und frisch gewaschenen) Roadster wieder in dem Parkhaus in der Nähe im Herzen von Magdeburg, laufe nach draußen an die Oberfläche, höre auf all die Geräusche, das Wummern der Bässe der Veranstaltungstrucks, die Stimmen der jungen Menschen eingehüllt in ihren Regenbogenfahnen und lasse den Demozug, der gerade um die Ecke biegt, ganz langsam auf mich zukommen.
Ich stehe an der zentralen und abgesperrten Kreuzung neben dem Einkaufscenter, beobachte den vorbeiziehenden CSD, die wahrscheinlich wieder tausend (oder mehr) bunten Teilnehmer, die Wagen, die Menschen, die Musik. Warte auf meinen Einsatz - und reihe mich mit ein. Ich bin wieder da. (Ich muß den offiziellen Start nur um Minuten verpaßt haben.)
Die Demoroute ist dieselbe, wie im letzten Jahr, zwei Kundgebungen, einmal am Dom, einmal auf einer großen Kreuzung oder Kreisverkehr ... ist das derselbe Platz auf dem ich drei Wochen zuvor ein Catcalling Erlebnis hatte? Der kleine Trans Pride Block, in dem ich mich mit eingereiht habe, läuft schweigend und demonstrierend in einer geschlossenen Linienformation ("schweigend", weil wir Masken tragen, als Pandemieauflage). Überhaupt bin ich mit meiner Filtermaske, der übergroßen Sonnenbrille und meinem tief ins Gesicht gezogen und Schatten spendenden Strohhut kaum zu erkennen (oder zu identifizieren). Der kleine, eigenständige Block löst sich nach der Demo genauso schnell wieder auf, wie er entstanden ist.
Rückkehr auf dem Alten Markt im Zentrum von Magdeburg, das war erst meine zweite Demo, die ich hier mitgemacht habe, das anschließende Fest auf dem Platz besuche ich schon ein paar Jahre länger. Nur dieses Jahr ist es irgendwie anders ... alles mit Festivalzäunen abgesperrt, rein (auf den Innenbereich vor der Bühne und den Ständen) kommt nur, wer es an der Security vorbei schafft. Genesen, Geimpft, Getestet. Von mir auch scherzhaft als "Impfzoo" bezeichnet ... ich zeige dem netten Ordner am Einlaß den QR-Code mit meinem Impfzertifikat auf meinem Smartphone und tigere wenig später selbst die Gitterstäbe auf der Innenseite des Geheges entlang. Hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.
Die Infostände sind dieselben, der Hanfstand gleich neben dem Rekrutierungsstand der örtlichen Polizeibehörde ist immer wieder amüsant. Der quietschsüße Waffelverkaufsstand ist neu (mein Nachtisch nach dem Falafel-Teller auswärts) und ein Cappuccino Punkt 16 Uhr zum Beginn des Nachmittags. Ich drehe mit dem Pappbecher in der Hand meine Runden, es wird irgendwie langweilig ... nicht mal die Drag Queens auf der Bühne können mich aufheitern (was sie sonst schaffen könnten). Ich fühle mich auf einmal so alt, wenn ich weiß, daß die meisten der jungen Menschen hier auch meine Tochter oder Sohn (oder was auch immer) sein könnten. Hätte ich eine Tochter, wäre sie jetzt bestimmt sechzehn ... so Dezember 2004 geboren. Auf der Demo selbst war der Altersdurchschnitt noch etwas höher (und ein paar interessante Blickfänge zum Flirten mit dabei).
18 Uhr, das Glockenspiel am Rathaus spielt "Freude schöner Götterfunken" - ich weiß nicht mehr so genau, wann ich das Stadtfest verlassen habe, eine Faßbrause am angrenzenden Biergarten bestelle und letztendlich den frühen Abend mein Auto aus der Tiefgarage des Einkaufscenter hole, es ist immer noch heiß und sonnig, als ich mit heruntergeklappten Verdeck Magdeburg wieder verlasse. Den Tag über mit Hut, Sonnenbrille und Maske sonnengeschützt im Gesicht - dafür wieder ein tiefer Sonnenbrand im ausgeschnittenen Dekolleté meiner grünen Stricktunika ... der Sport-BH, den ich darunter trage für einen bauchfreien Look, ist zwar ganz praktisch, aber etwas mit "etwas weniger" Ausschnitt wäre vielleicht besser gewesen. Vor zwei oder drei Wochen war ich zwar schon einmal auf der Suche in den Bekleidungsgeschäften dieser Shopping-Mall, habe aber nichts Adäquates für mich gefunden (hier muß ich mein Outfit noch nachbessern).
Als ich den Abend wieder zu Hause bin, bin ich zu kaputt, um noch etwas zu unternehmen. Ich weiß, da wäre noch eine Disco-Veranstaltung gewesen, aber mir fehlt einfach der Schlaf der letzten Nächte (eher Monate). Und so richtig kann ich mir solche "Events" noch gar nicht wieder vorstellen ... was ist, wenn die Leute, die unter die ominöse 3G-Regel fallen und da mitmachen können, genauso langweilig sind, wie ich? Erst so langsam taste ich mich an mein altes Leben wieder heran...

[06.08.21 / 03:26] Mein Problem mit dem Jobcenter nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an ... Geld kommt keines mehr auf mein Konto. Die Briefe stapeln sich, das Wort "vorsätzlich" macht mir Angst - wenn ich auf die ganzen Drohschreiben nicht antworte oder nur zum Teil (fast schon hilflos) massenhaft Kontoauszüge der letzten Monate auf die Internetseite der Behörde und in mein Kundenprofil hochlade, bin ich trotzdem verdächtig, verstoße gegen diese übermächtige Pflicht zur Mitwirkung und verschleiere mein Vermögen. Alles nur, weil es das Bankgeheimnis nicht mehr gibt, ich Jahre zuvor (als es mir noch gut ging) etwas mehr besessen habe und sowieso alle Bittsteller als asoziales Pack unter Generalverdacht stehen.
Was nun? Die geforderten Kontoauszüge von vor anderthalb Jahren liegen irgendwo in einem verstaubten Rollschrank in Papierform herum, ein Online-Postfach für Bankdokumente als PDF-Datei hatte ich da noch nicht. Am Computer den Tag neun Stunden lang alles einscannen ... in einer virtuellen Maschine die wiederum selbst auf einem verschlüsselten Teil meiner Festplatte sitzt und die erstellten Dokumente ohne Umweg in einen verschlüsselten Ordner schiebt. Paranoia.
Ich kann denen nicht erklären, wo die ganze Kohle von damals abgeblieben ist - an meine "Syrian Connection" verliehen und niemals zurück bekommen (habe ich damit "seine" Drogensucht finanziert?), alles 2019 verjubelt, luxuriöse Reisen, luxuriöser Schmuck ... schade, daß meine große Operation schon ein Jahr zuvor war, sonst hätte ich den Sachbearbeitern mal meine Rechnungen gezeigt und wieviel "zehntausende Euros" ich schon in meinen Körper und ästhetische Korrekturoperationen gesteckt habe. Phantastereien.
Etwas im Internet recherchiert, wie das Jobcenter arbeitet, wie die Abläufe sind, was in der Stasi-2.0-Behörde wirklich passiert - das Wort "vorsätzlich" in dem Brief mit der schweren Anschuldigung macht den Unterschied. Es ist ein Warnsignal für mich ... möglicherweise liegt mein Fall schon bei der Staatsanwaltschaft. Gehe ich zu weit mit meinem Gedankengang?
Jedes Mal, wenn ich die Polizeisirenen vorbeifahren höre, schrecke ich zusammen. Der Flyer mit den klaren Verhaltensregeln bei einer drohenden Hausdurchsuchung liegt griffbereit ... das Erlebnis vor zweieinhalb Jahren, wie die mich aus meinem geschützten Wohnumfeld herausgerissen haben und schon in schwerer Uniform im Treppenhaus standen, traumatisiert immer noch einige Familienmitglieder und mich. Die ganzen psychiatrischen Diagnosen in den ärztlichen Entlassungsbriefen wachsen Zeile um Zeile...

Das ist alles nicht real!

Mein aktuelles Mantra ... die soziale Isolation der letzten 18 Monate (und der ganze Mist das Jahr davor) hinterläßt spürbar seelische Narben. Vielleicht lasse ich das jetzt weiter eskalieren, vielleicht bin ich schon längst nicht mehr richtig bei Verstand (Verrückte wissen nicht, daß sie verrückt sind), vielleicht ... ignoriere ich die Briefe vom Jobcenter auch weiterhin. Ignoriere die Anschuldigungen, was mir alles vorgeworfen wird, wofür ich verdächtigt werde. Vielleicht ist mir das alles schon viel zuviel geworden, nicht mehr zu stoppen, auf dem Weg in den sicheren Abgrund. Vielleicht ... kann es mir auch egal sein, sollte ich irgendwann in naher Zukunft wegen eines Straftatbestandes vor Gericht landen und verurteilt werden (irgend etwas mit "Sozialleistungen" die ich nie hätte bekommen dürfen) und alles teilnahmslos hinnehmen. Vielleicht bin ich auch nur gefangen in einem nie enden wollenden Alptraum. Keine Hoffnung, keine Perspektive, keine Zukunft - aber hey, schon seit sechs Monaten "clean" (ohne Schlaftabletten).

Mein Leben (so wie es war) endet hier.

Nachtrag drei Tage später: Stütze jetzt doch weiterbewilligt? Und ich hatte gerade alle Kontoauszüge der letzten fünf Jahre vernich... für ein "papierloses Büro" geschreddert. Sie versuchen es mit dem nächsten Trick und wollen wissen, was für Luxuskarossen ich in der Garage habe - mein mühsam abgesparter und fünf Jahre alter MX-5 könnte mir noch zum Verhängnis werden.

[18.07.21 / 23:42] Ich habe Dinge gesehen... Unterwegs auf dem CSD 2021 in Leipzig. Wie immer, die Nacht davor schlaflos in meinem Bett auf dem Dachboden, vor 4 oder 5 Uhr den Morgen schlafe ich nicht mehr ein. Erst wenn die Sonne aufgeht, erst wenn die Vögel mit Zwitschern anfangen, erst wenn ich eine Weile am Fenster im Badezimmer stehe und die Ruhe, die Einsamkeit und die kühle Luft auf mich wirken lassen kann. Das Smartphone mit der Weckfunktion habe ich unter Tränen und enttäuscht von mir selbst wieder ausgeschaltet ... der Alarm war auf um 8:00 Uhr programmiert, ohne meinen seit Monaten nur noch auf fünf Stunden reduzierten Schlaf - von 5 bis 10 Uhr - fahre ich den Sonnabend Vormittag nicht auf der Autobahn nach Leipzig. Ich habe keine Verpflichtungen getroffen, keine Termine, keine Zusagen, keine zeitlichen Abmachungen. Ich muß nicht da sein, wenn es nicht geht ... kurz nach 9:30 Uhr den späten Morgen wache ich wieder auf.
Dann fahre ich eben eine Stunde später los! Das kann ich schaffen, mein ausgearbeiteter Ablaufplan, alle Sachen den Tag zuvor schon zurecht gelegt, in Windeseile unter die Dusche gesprungen, im Flug die Beine rasiert (elektrisch), kein Make-up, keine Ohrringe mühselig einfriemeln, das Frühstück hastig reindrücken, den Abfahrtszeitpunkt von 10 Uhr auf 11 Uhr gelegt bzw. angepeilt, alles in die große Strandtasche stopfen. Es wird laut Wetterbericht tropisch, den Freitag nur 24 Stunden zuvor sind meine aus den USA bestellten (und in Frankreich hergestellten) Gummistiefeletten mit dem Express-Paketdienst gekommen - für die große Wiese in dem Park, auf der für dieses Jahr die Kundgebung für den CSD in Leipzig stattfinden wird! Ich muß da hinfahren, ich habe mein ganzes Hippie-Outfit mitsamt schwarzen Plisseerock und weißen Häkeltop auf die grün-bunten Gummischuhe darauf ausgerichtet. Gegen 11:15 Uhr werfe ich meine Umhängetasche in den Kofferraum und donnere mit 150 km/h in meinem Roadster die Autobahn Leipzig entgegen, über mir die tiefdunklen und leeren Regenwolken des Gewitters die letzten Nächte.
Wie gewohnt, ich kenne mich in Leipzig aus, das Parkhaus am Hauptbahnhof ansteuern, in eine freie Parklücke quetschen (die mit dem Betonpfeiler, die sonst keiner nimmt), Schuhe wechseln, alles, was ich nicht brauche (mein "Übernachtungs-Kit") im Kofferraum zurücklassen und in Richtung des diesjährigen und wieder stattfindenden CSDs marschieren ... nur eben dieses Jahr auf der "Wiese".
Es nieselt, es ist kalt und irgendwie trotzdem schwül-heiß (war da nicht schon mal was in meinem Tagebuch?), für den Weg dahin und für die Demo nutze ich meine Keilsandaletten - die sind echt bequem. Kurz vor Erreichen der Wiese in der Parkanlage westlich des Leipziger Hauptbahnhofs, stelle ich unter einem Baum meine Umhängetasche kurz ab und schiebe mich mit einem kleinen Schuhanzieher barfuß in meine neuen Gummistiefeletten ... sehen wirklich schick aus mit dem aufgedrucktem Dschungelmotiv, meine Keilsandaletten landen in dem Beutel in meiner Tasche (da sind auch noch ein Wollponcho, der Regenschirm und eine große 1-Liter-Flasche Wasser drin). Von überall her strömen jetzt die jungen Menschen mit ihren Regenbogenfahnen zu der Bühne in der Mitte, am anderen Ende der großen Wiese ... Hunderte, Tausende! Amüsiert stelle ich fest, daß die meisten Teens and Twens nur die üblichen Stoffschuhchen tragen - ihr seid nicht passend angezogen! Ich erwarte ein "Pridestock" Happening! (Der Schlamm bleibt aus.)
Nieselregen - das Display des Smartphones ist unter dem schwarzen Regenschirm benetzt mit voller kleiner Tropfen und flackert, die Kundgebung auf der aufgebauten Bühne geht so zwei Stunden, von 13 Uhr bis 15 Uhr, ich suche unter einer großen Eiche Schutz. Redebeiträge, politische Parteien, Buh-Rufe aus einer kleinen und radikalen Gruppe aus dem auf der Wiese sitzenden Publikum dicht neben mir ... es geht um eine Partei, die dem Druck der Regierungskoalition nicht standhalten konnte und kürzlich gegen eine Vorlage zur Änderung des Transsexuellengesetzes gestimmt hatte, explosives Zeug für einige Transmenschen.
Der Nieselregen läßt nach, die Sonne kommt raus und brennt sofort auf meine "Gothic-Haut" auf der großen Wiese, ich spanne den schwarzen Regenschirm als Schattenspender erneut auf und lasse ihn auch gleichzeitig trocknen. In wenigen Momenten geht es los - der Pride durch die Innenstadt! Das die Organisatoren das genehmigt bekommen haben...
Schirm zusammenrollen und in die Umhängetasche packen, wenigstens das Gesicht großzügig mit Sonnencreme zukleistern, meine neuen und wunderschönen Gummistiefeletten (die Entdeckung für mich!) nach dem Fußmarsch auf der Parkwiese zurück zu der Straße durch meine Keilsandaletten aus dem Plastebeutel tauschen und mich für den Demozug bereitstellen.
Wo ist mein Wagen? Es gibt dieses Jahr wegen der besonderen Lage nur zwei oder drei Demotrucks ... der mit der beschriebenen politischen Partei wird von einer Gruppe Aktivisten mit einem großen Transparent am Losfahren behindert. Es sollte mich mehr betreffen, ich gehöre zu der durch das Gesetz diskriminierten Transgemeinschaft. Ich stehe immer noch am Rand auf dem Fußweg der Straße am Parkeingang und beobachte die beklemmende Szenerie mit dem Gerangel. CSD ist politisch, keine Party für gelangweiltes, junges Publikum mit Tanzen. CSD ist der Kampf um Erhalt der nur vor ein oder zwei Generationen erreichten Grundrechte, der Aufstand, das Begehren nach Chancengleichheit, gegen die Diskriminierung, gegen das Gefühl vom Großteil der Bevölkerung als abartig, krank, kriminell, nicht existent oder schlimmer noch - als nicht lebenswert betrachtet zu werden. Dafür reichen eure kleinen Regenbogenfähnchen als Bekenntnis der Solidarität nicht aus. Ich habe Angst vor Gewalt- und Konfliktsituationen, lasse mir lieber ohne Gegenwehr die Nase brechen - und stehe unfähig zu handeln da.
...mein Wagen fehlt. Der kleine "radikale" Pritschentransporter, der sonst immer ganz hinten an dem Demozug angehängt wird. Der mit der schönen Musik, den eigenen Redebeiträgen versus der großen Veranstaltungstrucks - der mit den schönen Menschen die hinterherziehen! Sie sind da ... zumindest das subkulturelle Publikum aus der queeren Szene. Ich reihe mich ganz hinten mit ein.
Die Demoroute ist kürzer, kompakter - ich habe das Gefühl, die Polizeieskorte staucht das ganze etwas mehr zusammen als sonst. Die grauen Nieselregenwolken sind jetzt wirklich weg und mir fehlt der sonst übliche Platz, von "Schatten zu Schatten" zu springen. Das Tanzen fällt auch weg, einige der Demoteilnehmer haben zwar ihre eigenen "portablen Musikbeschallungsanlagen" dabei, aber so laut sind die jetzt doch nicht. Ich nutze die Gelegenheit, schlängel mich ab und zu ein paar Meter nach vorne durch, bleibe am Rand stehen und beobachte kurz den hintersten Teil des Demozuges mit den bunten Teilnehmern aus meiner Zuschauerperspektive ... nicht ohne die Menschen nach ein paar mir bekannten Gesichtern abzusuchen. Nur die ganz wenigsten tragen einen pandemiebedingten Mundschutz (außer vielleicht die sympathisch wirkende Gruppe mit den Gummi-, Leder- und Fetischmasken).
Das ist das andere Thema... Ich bin seit kurzem doppelt geimpft, zwar noch nicht ganz der volle Schutz (erst in ein paar Tagen), aber immerhin. Von einem Großteil der sehr jungen Demoteilnehmer weiß ich das nicht (und muß ich auch nicht), aber als der Demozug dann zum Finale in die enge Leipziger Innenstadt in Richtung Markt und Augustusplatz einbiegt ... die Gesichter der anderen Menschen! Alte, Normale, die, die da den Sonnabend Einkaufen gehen - überrascht, irritiert, etwas verängstigt? Irgendwo zwischen: "Das hätte ich jetzt nicht erwartet" und "Oh, schön, wie früher" und "Jetzt sind wir verloren, jetzt kommt sie, die nächste Virus-Welle" - der Bürgerschreck. Wir quetschen uns unter lautem Getöse zu Tausenden durch die engen Gassen und begehren auf, für unser Recht zu leben. Corona ist was für alte Menschen, für Politiker, für Fernsehnachrichten und auf Papier gedruckten Zeitungen. Es existiert nicht mehr in der Blase der verloren Jugendgeneration. Nur ich mit meinen 39 Jahren bin das Bindeglied zwischen diesen beiden Welten.
Der CSD 2021 endet auf dem Augustusplatz in der Mitte von Leipzig, anders als sonst die Jahre bis 2019 auf dem Markt im Herzen der Fußgängerzone. 17:30 Uhr? Bis 18 Uhr werden Durchsagen gemacht, die Veranstaltung für beendet erklärt, zum Räumen des Platzes aufgerufen. Nicht nur der große Platz vor der Oper ist voller junger Menschen, auch die Innenstadt mit den Läden, Kaufhäusern und Modegeschäften ist voller Regenbogenfahnen tragender Demoteilnehmer - laufe ich mit ihnen, bin ich jung und proud - laufe ich entgegen des Stroms, bin ich plötzlich uralt: "Wo kommen die denn jetzt auf einmal alle her?"
Ich war seit einem Jahr nicht mehr hier, einige Geschäfte sind neu, andere weg, wer hat die lange Zeit der Schließungen überlebt? Mein gewohnter Rundgang, einmal Kuchen essen ("Eierschecke"), eine Kugel Premium-Eis (neu: "Avocado mit irgend etwas Fruchtigem"), einmal den späten Nachmittag und frühen Abend am Ende der Fußgängerzone mich in den Außenbereich des einen italienischen Restaurants setzen und eine Pizza bestellen. Sollte jetzt plötzlich ein Gewitter kommen und ein kalter Wind, habe ich für den Fall jetzt endlich meinen kuschelwarmen schwarzen Cashmere-Poncho dabei. Es bleibt warm, die chinesischen Gäste an dem Nachbartisch geben dem Ganzen ein internationales, touristisches Flair ... irgendwo zwischen der überfüllten Innenstadt von Florenz und Amsterdam.
Der angrenzende kleine Park neben der Kirche, in dem sonst nur ein paar Punks, Bücher lesende Studenten, Kinderwagen-Moms und eine Rattenfamilie ihre Zeit verbringen und genießen, ist jetzt noch überfüllter als sonst. Wirklich viele feiernde und sehr junge Menschen sitzen da jetzt die warmen Abendstunden auf den Bänken und ausgetretenem Rasen herum - alles voller Müll, Alkoholika, Flaschen, laute Menschen, Party und Musik. Ähnlich der abendlichen Szenen in süditalienischen Altstädten, nur eben nicht so von mir stilisiert, dafür mehr verwahrloster ... so eine Art englische "No-Future-Generation" ohne Perspektive und Geld und dafür eine durch eine Klimakatastrophe ausgelöste Hitzewelle mit täglichen Sommerunwettern mitten in Deutschland. Dystopie pur.
Ich verlasse Leipzig wieder mit meinem Auto, nach fast acht Stunden im Parkhaus, und fahre auf der mehr oder weniger leeren Autobahn den späten Sonnabend Abend zurück ... jetzt mit Tempomat und wesentlich langsamer, so 120 km/h - dem orangen Sonnenuntergang entgegen.

Noch etwa 10 Tage bis zum vollen Impfschutz, dann könnte ich auch wieder die Nächte in einen Club ausgehen? Falls es die noch gibt...

[02.07.21 / 18:09] Ich hangel mich von Weiterbewilligungsantrag zu Weiterbewilligungsantrag, möglicherweise war das jetzt im Juli die letzte Zahlung vom Jobcenter und mir droht demnächst die komplette Rückzahlung wegen fehlender Mitwirkungspflicht. Ich habe die ganzen Briefe immer nur schnell weggelegt und verdrängt, die schweren und dicken Briefe, vollgestopft mit Anlagen zu Anträgen, Formularen und Fristen zur endgültigen Klärung und den ganzen angstmachenden Gesetzesparagraphen. Die von mir nachgereichten Kontoauszüge der letzten sechs Monate liefern keine weiteren Schlüsse.

Wer bin ich?

Ich habe mittlerweile so viele unterschiedliche Persönlichkeitsaspekte, daß ich einzelne Teile davon nicht mehr kontrollieren kann. Ich bin die psychisch angeschlagene Hartz-IV-Bezieherin, die in das Antragsformular Zahlen kritzelt, von denen sie in diesem Moment selbst überzeugt ist, egal ob sie stimmen oder nicht (in meiner Welt sind die richtig). Ich bin die innerlich migrierte Langzeitarbeitslose, die nicht einmal mehr selbst daran glaubt, überhaupt noch einen Berufsabschluß oder fachliche Kenntnisse zu besitzen, die sich trotzdem auf die unmöglichsten Stellen bewirbt (oder dazu gedrängt wird) und deren Anschreiben und Lebenslauf voller wirrer und zusammengestückelter Texte sind.

Ein unaufhaltsames Gedankenkreisen zermürbt meine Seele.

Noch vor ein oder zwei Wochen durchlebte ich den letzten, klaren Moment: Ein sonniger und heißer Sommersonntag - als ich in meinem olivgrünen Strandkleid die große Stricktasche mit dem Regenbogenhandtuch in den Kofferraum meines roten Roadsters in der Garage gepackt hatte und zum Schwimmen an den Baggersee fuhr. Als ich unter den vielen Menschen in meinem tief ausgeschnittenen Kleid, dem Strohhut und der großen Sonnenbrille in dem flirrenden Licht den Trampelpfad durch die Büsche und Disteln zum kleinen Strand ging. Als ich mich gefühlt hatte, wie die Grande Dame irgendwo in der Provence, voller Anmut und Schönheit. Doch das ist Vergangenheit.

Mein Körper zerfällt...

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch lebe, ob ich einen Schlußpunkt ziehe, jetzt oder in zehn, zwanzig, dreißig Jahren. Ob ich mein Leben noch einmal von vorn beginne. Denn so wie es ist, ist es nicht mehr änderbar.

Es passiert nichts mehr.

[...]

...so wie ein heruntergebranntes Räucherstäbchen, dessen Asche in einem unbeobachteten Wimpernschlag in die Schale sinkt.

[Anmerkung der Verfasserin: Dieser Text entstand zu Teilen tief in der Nacht, wurde mehrmals umgeschrieben und entschärft. In keinster Weise möchte ich "etwas" andeuten oder dazu die mir unbekannten Leser motivieren. Es geht mir nur darum, diese ganzen Gedanken aus meinem Kopf "wegzuschreiben" - das ich das öffentlich mache, ist meine private Entscheidung. Vielleicht findet sich jemand darin wieder, vielleicht hilft es, mit dem ganzen Scheiß nicht allein zu sein. Vielleicht ... verschwindet meine Tagebuchseite auch irgendwann - und es hat nichts zu bedeuten.]

(Ich glaube, von dem düsteren Originaltext die Nacht ist fast gar nichts mehr vorhanden.)

[10.06.21 / 19:12] Ich konnte es doch nicht durchziehen ... die eine Bewerbung, auf die ich mich als "Herr Dipl.-Ing." beworben hatte. Ich war überrascht, daß ich überhaupt zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wurde.
Was ziehe ich an? Es wird den Tag sommerlich heiß, das Auto mit der Klimaanlage steht in der Garage, nach Monaten immer noch (oder schon wieder) mit leerer Batterie. Ich muß den frühen Mittwoch Vormittag den Regionalzug nehmen. Männersachen habe ich keine mehr, so etwas wie "Hemd, Krawatte, Sakko" fand ich schon immer abartig und habe ich nie besessen. Den Kleiderschrank voller wunderschöner Sommerkleider. Ich nehme das ungetragene Blümchenkleid vom letzten Jahr und meine neuen Keilsandaletten. Damit es halbwegs seriös aussieht, verhülle ich meine nackten Beine mit einer schwarzen Leggings. Bewerbungsunterlagen habe ich keine, meine Originalzeugnisse - die mit meinem alten, männlichen Namen - trage ich nicht nach draußen. Ich stopfe alles, was ich den Tag brauche, in meine italienische, schwarze Lederhandtasche. Den schwarzen Kapuzenhoodie überziehen und ich laufe kurz nach halb neun den Morgen zum Bahnhof.
Magdeburg ... auch nicht viel los hier, noch mehrere Stunden bis zum Bewerbungsgespräch in der einen Firma am Nachmittag. Die Zeit rumkriegen, einen Arzttermin, vielleicht Einkaufen in den Geschäften und Kaufhäusern (es ist jetzt wieder möglich - mit Maske), den Frühsommertag in der Fußgängerzone etwas Essen. Die Temperatur steigt.
15 Uhr, der Termin, ich bin überpünktlich und warte noch eine Weile, bis ich auf den Klingelknopf drücke. Ein Fahrstuhl fährt mich hoch in die Geschäftsräume. Irritierte Blicke, irritierte Gesprächspartner - ich bin nicht der "Herr", den sie erwartet haben. "Alle meine Zeugnisse sind noch auf meinen alten Namen", entgegne ich in dem Konferenzraum. Wenigstens stehen ein paar Flaschen Wasser für Meetings und Gespräche bereit. Keine Klimaanlage, es ist heiß.
Den späten Vormittag zuvor, ich liege für eine Untersuchung in dem MRT in einer radiologischen Praxis in der Innenstadt. Das große, hochtechnische Gerät wird gekühlt. Meine Leggings, mein Kleid, alles mit Bedacht gewählt und ohne Metallteile - den BH habe ich vorher in der Umkleidekammer ausgezogen. Das Kontrastmittel wird mir auf der Liege in den linken Arm injiziert ... die Vene finden, ich sehe schon wieder aus, wie ein zerstochener Drogenjunkie. "Sagen Sie Bescheid, wenn es brennt", der nicht ganz so beruhigende Satz der jungen Assistentin. Verdammte MS, ich muß das jedes Jahr über mich ergehen lassen.
Das gerade angefangene Bewerbungsgespräch den heißen Nachmittag ein paar Stunden später, daß ich einen Behinderungsgrad habe, verschweige ich. Meinen weiblichen Vornamen haben die beiden akzeptiert. Ich stelle mich sofort entwaffnend als "Frau" vor. Keine so erfreulichen Gesichter ... aus Sicht des Personalverantwortlichen und dem Geschäftsführer dieser kleinen Firma, wäre es besser gewesen, ich hätte mich gleich als weibliche Kandidatin auf diese Stelle beworben ... sie fragen, wie weit ich seelisch mit meiner Transition bin und ob ich diesen eingeschlagenen Weg auch weiter fortführe.
Nach meinen überstandenen MRT-Termin in der Magdeburger Innenstadt streife ich durch die angrenzenden Shopping-Malls und Kaufhäuser - ich bin auf der Suche nach einem weißen Textil- oder Ledergürtel für mein anderes, neues und ungetragenes Jeanskleid. Irgend etwas, was die Taille betont und mich noch weiblicher erscheinen läßt. Etwas frisches für den Sommer ... in meinem offenen Roadster, auf der Landstraße, mit Sonnenbrille und wehenden Haaren. Ich habe meine Stammgeschäfte - hochpreisig, exquisit. Den weißen Kunstledergürtel in dem sehr bekannten, schwedischen Modehaus der unteren Preisklasse, lasse ich in der Auslage hängen, ich entscheide mich für den aus Echtleder, gefunden in dem großen Kaufhaus quer über die Kreuzung, einen im geflochtenen Muster und ohne Lochnieten. Die weißen Militärgürtel im Internet sehen alle zu männlich aus und stehen nur Motorradpolizisten und kernige Kerle ... Fotos aus der Gay-Community?
Ich fahre Motorrad, aber das steht auch mit leerer Batterie verlassen und voller Spinnweben in der Garage. Die Antwort, ob ich einen Führerschein besitze, beantworte ich in dem Bewerbungsgespräch mit "Ja", nur dieses eine Mal mußte ich den Zug nehmen. Die Stelle wäre mit Kundenkontakt ... Bin ich vorzeigbar? Wie so oft, ich kann es den beiden Männern in dem Raum nicht glauben, wenn sie nicht erkennen wollen, daß ich keine geborene Frau bin - ich gehe immer davon aus, daß es jeder sofort sieht und hört. Wäre es besser gewesen, meine transsexuelle Vergangenheit auch zu verschweigen? Und hätten die mich dann überhaupt als Frau eingeladen? Ich könnte ja urplötzlich schwanger werden und für Monate ausfallen.
Diese Probleme habe ich nicht in dem Restaurant den Mittag zuvor in der Innenstadt. Meinen kurzen Einkauf habe ich beendet, der neue Gürtel liegt in einem Beutel in meiner Handtasche. Das italienische Restaurant mit bis zum letzten Tisch besetzten Außenbereich, macht den Tag ein gutes Geschäft. Ich gebe nach meinen bestellten und aufgegessenen Gnocchi etwas mehr Trinkgeld, setze nach dem Bezahlen meine Maske auf und frage nach der Toilette in dem Innenbereich der Gastronomie. Ich habe keine Probleme damit, die Frauentoilette zu benutzen - ich bin eine Frau. Ich sehe so aus, ich bewege mich so - und sprechen muß ich da auch nicht. Ich mache mich an dem kleinen Spiegel neben den zwei Kabinen etwas frisch und bereite mich auf das bevorstehende Bewerbungsgespräch vor, das in einer Stunde, ein paar Straßenbahnstationen entfernt.
Dieses Bewerbungsgespräch, in dem ich wieder die mir bekannten und ablehnenden Gesten der Teilnehmer erkennen werde, wenn sie mir die Frage stellen, warum ich so lange arbeitslos bin. Was ich die letzten zwei Jahre überhaupt gemacht habe (isoliert zu Hause?), warum es für mich nahezu unmöglich ist, eine Arbeitsstelle zu finden. Die fehlenden Qualifikationen kann ich erarbeiten, Neues lernen ... ich bin zu unsicher und weiche zum Ende des dreißig Minuten dauernden Gesprächs allen Fragen aus, die auch nur ansatzweise etwas mit meiner persönlichen und traumatischen Vergangenheit an meiner alten Arbeitsstelle zu tun haben und zu meiner Entlassung führten. Und dabei habe ich noch nicht einmal erwähnt, daß ich fast schon selbstzerstörerisch in der Psychiatrie gelandet bin - wegen dieser Arbeit (und das ist der Punkt). Der Fahrstuhl fährt mich wieder runter und ich weiß, es ist wieder nichts geworden.

"Hartz IV" könnte noch bis zum Ende des Jahres, pandemiebedingt, verlängert werden ... erst dann fällt die finanzielle Stütze für mich weg und ich müßte mir doch mehr Gedanken machen. Bin ich schon zu alt, um auf den Strich zu gehen?

[02.06.21 / 19:10] Jetzt geht alles sehr schnell - die vier Wochen auf der Warteliste sind um und ich bekomme einen Telefonanruf von der Hausarztpraxis für meine erste Schutzimpfung mit dem mRNA-Wirkstoff. Montag Abend der Anruf und Mittwoch Mittag stehe ich schon in der Warteschlange draußen vor der Praxis. Mit dabei: mein alter, dunkelroter DDR-Impfausweis, von dem ich dachte, der ist so gut wie hundert Prozent fälschungssicher, mit dem geprägten Emblem auf dem Einband ... dieser landet auf einem Stapel und wird demnächst durch eine neuere Version ersetzt (so ein langweiliges, gelbes Papier).
Eine Stunde warten, draußen auf der Straße, drinnen im Wartezimmer, dann mein Aufruf in das Behandlungszimmer: Kanüle in den Oberarm (nur wenige Zentimeter über meinen zerstochenen Junkie-Narben), noch einmal kurz draußen warten (auf der Terrasse) ... keine Nebenwirkungen, kein Flush (denn so etwas hatte ich mal vor 15 Jahren nach einer selbst gesetzten Nadel) und ich kann wieder gehen. Nächster Termin für die zweite Impfung ist in sechs Wochen.
In wenigen Tagen entfällt die Priorisierung, wenn dann alle einen Termin machen können, sehen die Grüppchen vor den Impfzentren und Praxen anders aus. Mit mir standen da jetzt nur ein paar ältere Menschen über sechzig, noch ältere Senioren für die Zweitimpfung (?), ein oder zwei blasse und zerbrechlich wirkende junge Menschen (das bin ich) und ... kräftige Männer, denen ich mein Leben anvertrauen würde (ich kann sie nicht besser beschreiben, aber sie strahlen dieses "heldenhafte" aus).
Meinen anderen Termin im Impfzentrum, den ich wenige Tage vorher um 3 Uhr nachts (!) überraschend im Internet buchen konnte, habe ich wieder abgesagt ... über die Internetseite (die mit der Hotline). Den Link in der Bestätigungsmail folgen und den Vermittlungscode eingeben, ein paar Klicks, ein Button - das ist wirklich nicht schwer (jedenfalls nicht für technikaffine Menschen).

Die Geschichte dahinter: Für fast 48 Stunden habe ich mir auch die Option offen gehalten und den Termin im Impfzentrum blockiert - und erst abgesagt, nachdem ich den "Stoff" in der Hausarztpraxis sicher hatte ... machen alle so (und ist wohl auch irgendwo als "empfohlene Prozedur" beschrieben). Bin ich damit asozial? Die letzten Wochen saß ich noch frustriert vor dem Computer und habe darüber geschimpft. Zum Problem wird es erst, wenn die doppelt reservierten Termine nicht mehr von den Bürgern abgesagt werden und das Impfzentrum noch für Monate ausgebucht bleibt - aber das wird in den Medien schon so propagiert.

"Kann ich meine nicht verwendete Impfdosis für Afrika spenden?"

[29.05.21 / 01:45] Faschokundgebung auf dem Marktplatz ... ich wußte gar nicht, daß dieses Kaff noch eine Gegendemoszene hat (ich bin nicht die Einzige). Im Internet radikalisiert, gehe ich den Freitag frühen Abend mal hin, mal sehen, wie weit ich komme ... mal sehen, ob was geht. Ich habe sogar extra meine purpur- und lilafarbenen Schnürsenkel von meinen alten Springer hervorgekramt und in meine Docs eingefädelt. Schwarzer Kapuzenpullover, fette Sonnenbrille, schwarze Jeans mit Nietengürtel, schicke Handtasche (ich mußte ja irgendwo meinen ganzen Kram unterbringen).
Marktplatz vollkommen abgesperrt, Bullies (oder "Wannen", oder "Six-Packs") vor jeder Zugangsstraße - zur Information: der Marktplatz mit Rathaus ist hier noch ein enger, historischer Stadtkern. Kein Durchkommen. "Früher", wenn ich da noch an meine aktive Zeit während des Studiums denke, wurden aus dem eingekesselten, schwarzen Block noch ständig Ausbruchversuche unternommen, möglichst nah an die Rechten herankommen und stören. Die "Rechten" sind hier eine nicht näher genannte und im Osten sehr starke Partei, die ihre feindlichen Ansichten hinter einer biederen Fassade verstecken.
Zu meiner Motivation: Vor ein paar Wochen hatte ich in einen meiner Tagebucheinträge eine schwarze Drag Queen erwähnt (oder so etwas in die Richtung), die sich nie sicher sein kann, ob sie - wenn sie die Nacht ausgeht - den Morgen noch lebend zurückkommt. Jetzt auf der Gegenveranstaltung in der Nähe des Marktplatzes in diesem Ort, steht schon wieder jemand aus dem BIPoC am Mikro und erwähnt kurz die durch Faustschläge gebrochene Nase. Scheiße. Ich muß bei so etwas immer reflexartig mit dem Finger meine Nase abtasten und den 2008 herausgebrochenen Knochensplitter fühlen. Es geht darum, daß ich Stiefel mit bunten Schnürsenkeln trage und mir Gedanken machen muß, ob ich nicht auf dem Weg zurück von so ein paar Idioten angemacht und verprügelt werde, weil ich anders bin, weil ich queer bin, oder trans, oder eine andere Weltanschauung habe. Oder weil ich einfach gern Reise, ausländisches Essen liebe und keine Berührungsängste mit fremden Kulturen habe (hier befinde ich mich leider schon im "positiven Rassismus" und finde alles Exotische höchst faszinierend).
Lange bleibe ich nicht draußen, die Kundgebung da drüben auf dem Marktplatz war für zwei Stunden, von 18 Uhr bis 20 Uhr angemeldet, durch die Reihen der Polizisten sehe ich in der Ferne ein paar blaue Fahnen ... zum Glück verstehe ich denen ihrer Reden nicht, das würde mich nur zu sehr aufwühlen. Es fängt ab 19 Uhr an zu regnen, die Kapuze von meiner schwarzen Baumwolljacke habe ich schon hochgezogen. "Scheiß Kamera", ich ziehe sie noch mehr ins Gesicht, die weiße FFP2-Maske trage ich schon die ganze Zeit, meine dunkle Sonnenbrille beschlägt ständig durch die Atemluft. Ich krame meinen Regenschirm aus der Handtasche ... da befindet sich auch eine kleine Wasserflasche drin, aber die ist wirklich nur zum Trinken (nicht zum Werfen). Die Nazis im Regen stehen lassen. Ich ziehe ab, wie die Menschen um mich herum auch. Das ist es nicht wert.

Hintergrund: Warum wählen Menschen so eine Partei? Nur weil die anderen Parteien "doof" sind? OK ... könnte auch mein Gedanke sein. Mal abgesehen von den ultrastrammen, rechtskonservativen Überzeugungswähler (die ich auch hier nicht bekehren kann und auch gar nicht will), werden solche Parteien "manchmal" (ich möchte freundlich bleiben) von Menschen gewählt, die gar nicht so genau wissen, was da wirklich im Parteiprogramm steht.
Ich bin eingefärbt, ich gehöre der LGBT-Szene an, die mit den Internetforen und Chatgruppen, in denen aktiv auf die menschenverachtende Rhetorik dieser speziellen Partei hingewiesen wird. Wir kämpfen hier um den Erhalt unserer Grundrechte, gegen Diskriminierung und gegen Homophobie und - für mich ganz besonders - Transphobie. Ich will nicht mehr ständig Angst um mein Leben haben, wenn ich rausgehe, wenn ich angepöbelt werde, wenn mir "Tunte" hinterhergerufen wird (ich bin übrigens korrekt eine "Transe"). Wenn Männer wild mit einer Bierflasche herumfuchteln und erzürnt sind, weil sie gerade herausgefunden haben, daß ich ja doch keine echte Frau bin. Und diese manipulierende Partei schreibt dann in ihrem Wahlprogramm so etwas wie: Haßverbrechen dieser Art gibt es nicht und wir unterstützen auch keinerlei Aufklärung oder Programme diesbezüglich. Die LGBT-Vielfalt wird dann trockengelegt, verdrängt, ausradiert und im schlimmsten Fall wieder pathologisiert oder kriminalisiert. Alle vier bis fünf Jahre muß ich mir immer mehr Gedanken machen, ins Exil zu gehen.

[24.05.21 / 21:12] Pfingstsonntag, der dritte Tag bzw. die dritte Nacht des Festivals, ich bin kurz vor 22 Uhr wieder zurück, der Stream läuft bestimmt schon seit 18 Uhr. Schnell die rote LED-Leiste auf dem Holzregal im Flur gegenüber der Badezimmertür bereitlegen und den Stecker finden. Den Barhocker vor meinem Kleiderschrank im Dachbodenzimmer gegenüber dem Computertisch mit den Studiomonitoren und dem Mischpult positionieren. Die bunte LED-Lichterkette über meiner Sofasitzecke, hängend an der Kabelbeleuchtung mit den Strahlern, einschalten. Die Stereoanlage anschalten, das Strobo-Effektgerät ausrichten, den Computer hochfahren, den Livestream des kleinen Musikfestivals starten und die Regler am Mischpult schnell einpegeln. Ich schaffe alles noch rechtzeitig vor dem "Einlaß um 22 Uhr" - also die Tür zur Dachbodenetage. Meine Klamotten ziehe ich schnell um, von "familienschwarz" auf "zu-Hause-schwarz" (ist eigentlich dasselbe). Die Musik läuft ... ich bin wieder mit dabei (und schon wieder nur fünf Stunden Schlaf).
Diese Nacht übernimmt das Festivalprogramm ein befreundetes DJ-Kollektiv, deren Auftritte ich in "echt" schon aus Leipzig kenne ... eigentlich sind die auftretenden Künstler aber viel mehr verteilt, so irgendwie zwischen Berlin und angeblich Bielefeld. Die auftretenden drei oder vier Bands sind live ... richtig live. Die aufwendige Kameraführung, Schnitt- und Audiotechnik ist mir schon bei dem anderen kleinen Online-Festival vor drei oder vier Wochen aufgefallen. Die Deko der Bühne oder des "Bühnenkäfigs" ist außergewöhnlich. Ich stehe neben meinem Barhocker mit einer Flasche Wasser in der Hand zwei Meter vor meinem 22-Zoll-Computerbildschirm und verfolge gebannt den Auftritt der zweiten Band des Abends ... für mich die erste Band, die davor habe ich leider verpaßt, echtes Festival-Feeling.
Die Auftritte der einzelnen Bands gehen länger als die kurzen Clips vom ersten Tag, mehr Titel, mit Pausen und Kommentaren am Mikro ... speziell diese Pausen sind so merkwürdig still - wo ist der Beifall des Publikums? Die klatschenden Hände? Ich vermisse die Menschen um mich herum, die Nacht davor war ich schon richtig berührt, als bei einem Live-DJ-Set in ein Wohnzimmer geblendet wurde und ich die ganzen tanzenden Menschen um das DJ-Pult sehen konnte - alle vier oder fünf mit einem Glas in der Hand ... so wie ich, zum selben Moment exakt zu Hause vor meinem Computerbildschirm, fröhlich schwankend. Ihr könnt mich nicht sehen, aber ich bin mental bei euch. [Anm. der Verfasserin: Das war doch diese Nacht, aber eigentlich beide...]
Genau das passiert jetzt auch mit den Sets des DJ-Kollektivs in dem laufenden Videostream, das ich den letzten Tag, die letzte Nacht aus meinem Wohnzimmer mit verfolge. Ich überlege mir schon die Gedanken, wenn das Festival wieder in echt stattfindet und ich freudestrahlend mein Ticket am Eingang einlöse und allen anwesenden Menschen verkünden kann: Ihr wart bei mir zu Hause und ich war bei euch zu Hause und wir haben das zusammen durchgestanden! Die an sich schon kleine Szene ist jetzt noch viel, viel mehr familiärer. Die DJs senden aus einem Keller oder Proberaum oder Tonstudio / Wohnzimmer irgendwo in Deutschland, ich kann am Bildschirm alles sehen, die Einrichtung, die Technik, die Gesichter, die Emotionen.
Dadurch, daß es die dritte Nacht ist und mir der Schlaf fehlt, tanze ich nicht ganz so durchgehend auf meiner kleinen Wohnzimmertanzfläche. Den Lautstärkepegel senke ich den späten Abend und die Nacht schon stündlich, ab 1 Uhr den sehr frühen Morgen folge ich dem kleinen Rat aus meinem persönlichem Umfeld und stelle alles auf Silent Disco um - ein Kopfhörer mit langem Kabel an meiner Stereoanlage zum Tanzen in meiner Lichterecke, der andere Kopfhörer (der schwere DJ-Kopfhörer) am Ausgang für den Control Room und den abgedrehten Studiomonitoren an meinem Mischpult vor dem Computer. Es geht für mich weiter ... aber davon bekommt die Nachbarschaft nichts mit.
Wie lange gehen die DJ-Sets und die Musik noch? Ich habe auf dem zweiten Computerbildschirm den auf die schnelle erstellten und irgendwie improvisiert, aber genial wirkenden Zeitplan aka "Schedule" des Festivals eingeblendet ... ich glaube, die Mannschaft will die legendäre 13-Uhr-Marke knacken, eine aus dem von mir verfolgten Chat-Verlauf angeblich von einem Benutzer erwähnte, frühere Legende - aber ich war nie länger als bis 7:30 Uhr dabei, vielleicht auch einmal bis um 8 oder 8:30 Uhr, aber das ist schon ewig her. Noch sehen die auflegenden DJs ganz gut aus, fröhlich tanzend, mit Glas umherschwankenden Party-Bewegungen ... spätestens ab 2 oder 3 Uhr nachts sitze ich nur noch mit meinem Kopfhörer mit den dicken Ohrmuscheln auf meinem Drehstuhl vor dem Computer, stoße mit meinem Glas an und beobachte das ganze virtuelle Treiben höchst amüsiert, ich will auch durchmachen ... mindestens bis zum Sonnenaufgang mit dem Dachbodenfenster neben mir nach Süd-Osten.
4 Uhr ... Vögel fangen an, das Dunkle der Nacht verschwimmt in das Grau-Blaue. Ich bin irgendwie schon kaputt. Die DJs da in dem Livestream sind auch schon mindestens 15 oder 20 Jahre in der Szene und so alt wie ich, ich muß das wissen, ich bin seit 2002 - besser 2003 mit dabei und habe in Briefumschlägen im Schrank wahrscheinlich hunderte gesammelte Papier-Flyer mit den bekannten DJ- und Künstlernamen von den verschiedensten kleinen Veranstaltungen quer durch Deutschland (und Europa). Ich sollte mich vielleicht doch etwas hinlegen, den Stream pausieren, noch bevor es ganz hell wird, etwas schlafen. Vielleicht schlafe ich bis Mittag, vielleicht auch gar nicht. Alles ausschalten, kurz ins Bad, noch einmal die kühle Morgenluft durch die geöffneten Dachbodenfenster über die Tanzfläche brausen lassen und dann auf der Matratze versinken.

9:30 Uhr ... waren das jetzt wieder nur fünf Stunden Schlaf? Die dritte Nacht? Der 4-9-Rhythmus hat sich irgendwie eingewöhnt. Erste Schritte aus dem Bett fallend, zum Computer, den Livestream starten, mich einklinken ... läuft immer noch. Blick auf die Timetable - was habe ich verpaßt, welche DJs kommen noch, was könnte interessant werden. Dadurch, daß die mehrmals in Schichten, oder Slots auflegen, habe ich von allen ein Set gesehen oder gehört (oder werde es noch). Morgenroutine, wie von Freitag auf Sonnabend 48 Stunden zuvor, die Soundanlage langsam hochdrehen, ins Bad verschwinden, duschen, zurück mit dem Handtuch auf dem Bett die Musik hören ... tanzen, wieder ins Bad wechseln, Kosmetika auftragen. Die DJs in dem Livestream wechseln sich ab ... Boah, sehen die alt aus. Besonders der eine DJ, das könnte auch mein Alter sein, er hat den Slot irgendwann zwischen 2 und 4 Uhr aufgelegt, ein paar Stunden pausiert und geruht (nur meine Vermutung) und steht jetzt wieder vor den Decks und der Videokamera, richtig gute Musik auflegend ... genau den Moment, als ich auch wieder aus meinem Badezimmer falle, hunderte Kilometer entfernt aber live dabei. Seine bunte Sonnenbrille verdeckt nur die tiefen Augenringe. Ich sehe alles an meinem Bildschirm und fühle mich jetzt richtig verbunden.
11 Uhr ... Kaffee. Ich muß nicht vor dem Bildschirm sitzen, ich kann auch mal in den Garten gehen, das kleine Espresso-Täßchen (eigentlich Macchiato) mit raus nehmen. Zurück auf dem Dachboden alles weiter verfolgen, für Essen wieder verschwinden, die Musik läuft weiterhin ... in der Lautstärke gedämpft. Ein kleines Chill-out-Set wäre jetzt nicht schlecht, aber die Synth-/Wave-/Disco- und Punk-Musik trifft es auch. Ihr Studio, von dem aus sie ihren Livestream senden, ist tatsächlich irgendwie so eine Art Keller? Während bei mir den Pfingstmontag Mittag die Sonne scheint, taucht bei dem DJ-Kollektiv ein kleiner Lichtschein in einem kleinen Fenster oben in einer Ecke auf. Und ich habe erträumt, jetzt könnte mal eine Live-Schaltung in einen benachbarten Garten kommen ... so etwas Ibiza-Hacienda mäßiges.
13 Uhr - die Marke ist geknackt, noch über hundert Zuschauer in dem Stream, es wird sehr herzlich in dem Chat-Fenster - ich wünschte, ich könnte daran teilhaben, aber ich bin immer noch nicht in dem Videoportal registriert. 14 Uhr ... die Crew hat meinen und den gesamten Respekt der Fans und der Stream läuft immer noch und könnte ewig so weitergehen.
14:30 Uhr - Stille - die DJs verkünden das Ende der Übertragung und spielen das letzte Musikstück an ... wo ist das Emoji mit großen Kulleraugen und dem Hundeblick? Aber ich habe doch gerade angefangen, den Montag auf dem anderen Computerbildschirm nebenbei etwas zu arbeiten? Ihr könnt doch jetzt nicht einfach aufhören? Tränen ... der Abschied ist so emotional. Ihr kennt mich nicht, aber ihr seid alles meine Freunde! Wenn wir uns in echt wiedersehen, werden ganz viele euch umarmen wollen. So vielen Dank für diesen wundersamen Livestream, das Online-Festival, die Mühe und die Energie, die ihr mit da rein gesteckt habt - und die schöne Zeit, die ich ... wir mit euch verbringen durften. Wirklich vielen Dank!

Gothic Pogo Festival
Mutant Transmissions
UNTER NULL Kollektiv

[24.05.21 / 21:11] Jetzt habe ich drei Tage und Nächte am Bildschirm fröhliche Menschen beim Tanzen zugesehen - und auf einmal ist alles wieder vorbei. Selbst von dem mittleren Teil bleibt mir nur noch eine Spur der Erinnerung:

Sonnabend, der zweite Tag (oder die zweite Nacht) des Online-Festivals, traditionell wie in den Anfangsjahren, keine Bands, nur DJ-Sets. Die Stamm-Crew sendet aus dem Hauptquartier in Leipzig, das große DJ-Pult sichtbar im Videostream, wunderschön dekoriert. Meine Anlage zu Hause im Wohnzimmer schalte ich gegen 20 Uhr mit ein ... "8 pm" stand auf dem Zeitplan (davor liefen schon ununterbrochen die Sets und Clips der Verrückten aus dem französischen Nachbarland).
Ich tanze ... 22 Uhr, es wird dunkel, Sonnenuntergang, die rote LED-Leiste neben der Garderobe leuchtet mir den Weg zur Toilette und dem Nachschub für die Wasserflasche. 23 Uhr, 0 Uhr, Mitternacht ... die andere bunte LED-Lichterkette steht auf "Chasing/Flash" und blitzt in einem Gewitter mit meiner Stroboskoplampe über die kleine Tanzfläche, der ausgetretene Teppich neben meiner Sitzecke mit der alten, schwarzen Couch und der übergeworfenen Leopardendecke. Das kleine Dachbodenfenster ist unverhüllt, es ist mir egal, ob mein Schatten und die bunten Lichter von außen beobachtet werden können ... ich will es so.
Ich gieße immer wieder etwas Wasser aus der großen Flasche an meiner Bar in mein Glas und schwenke es tanzend herum ... es ist eine große Kunst, das kleine Glas in den fließenden Tanzbewegungen zurück in dem flackernden Lichterschein und der gnadenlos animierenden Discomusik waagerecht zu halten, ohne alles wieder zu verschütten. Ich bin richtig gut drauf, in meinem schwarzen Dress - casual - ein schwarzes Top mit tiefen Ausschnitt und die sauteure Designer-Jogginghose.
Immer wieder wende ich mich auch dem Computerbildschirm mit dem Videostream zu und lese die Chatnachrichten, ich wünschte, ich könnte auch etwas schreiben - aber ich bin nicht angemeldet. Eine kleine Diskussion verfolge ich interessiert: Die Musik ist so 'gothic', wie die DJs sie auflegen - wenn da jetzt 'Bollywood' läuft oder ein Track eines nicht unbekannten 'nordsyrischen Hochzeitssängers' - dann ist das jetzt 'Gothic' (nur weil das Festival das im Namen trägt, muß das nichts damit zu tun haben). Genau über den letzteren Titel habe ich mich wahnsinnig gefreut, mit dieser orientalischen Musik (die ich über meinen syrischen Ex-Freund kennengelernt habe) bin ich die letzten Jahre in meinem offenen Roadster immer zu dem besagten Festival durch Connewitz zum Werk 2 gefahren.
1:30 Uhr die Nacht von Sonnabend zu Pfingstsonntag ... ich muß die Regler an meinem kleinen Mischpult neben dem Computer wieder herunterdrehen und nach und nach alles beenden, jetzt kommt der DJ, von dem ich weiß, daß er richtig gute Musik auflegt. Wenn ich da erst den ersten Titel höre, komme ich die nächsten zwei Stunden nicht mehr von der Tanzfläche herunter - und ich muß den Wecker an meinem Smartphone auf 7:30 Uhr stellen und in wenigen Stunden früh aufstehen ... Familienzeit (das andere Leben, außerhalb meines Blogs).

[22.05.21 / 12:41] Gothic und Pfingsten, die Party geht weiter. Das kleine Underground-Festival mit Ursprung in Leipzig, sendet auch das zweite Jahr live im Internet ... non-stop! Ich habe meine LED-Lichterkette (die Weihnachtsdeko) wiedergefunden, ich brauche den späten Freitag Nachmittag gefühlt über eine Stunde, um sie in meinem Dachbodenzimmer passend und stilistisch aufzuhängen. Der Aufbau der PA ist Routine und geht innerhalb von wenigen Minuten. Kurz nach 19 Uhr bin ich wieder mit dabei und schalte mich als Zuschauerin in den gerade begonnenen Livestream. Ich hatte schon den Gedanken, ob ich wirklich noch dabei sein muß - aber bei dem ersten Blick auf den Bildschirm und die Gesichter, die DJs, die Deko (in ihren Wohnzimmern?) und das familiäre Chat-Fenster (es ist eine kleine Szene) verfliegt sofort der sentimentale Gedanke.
Die DJ-Sets sind bunt gemischt, Gothic, Punk, Elektronisches - und das ist erst der erste Tag des Musikfestivals mit dem "Skelett-Logo", zwei weitere Tage und Nächte kommen noch. Die Clips der Bands sind vorab aufgezeichnet (würde ich auch so machen), die aufgelegte Musik ist live. Mal digital, mal reines Vinyl ... richtig interessant wird es, wenn ein DJ vom anderen Ende der Welt seine/ihre Technik vor dem Hintergrund eines Regals mit einer riesigen Schallplattensammlung aufbaut und die Plattencover dieser obskuren Raritäten in die Kamera hält. Ehrfurchtsvoll...
Viel Tanzen mache ich heute nicht, mir fehlt die Energie, ich wechsele ständig meinen Sitzplatz: Couch, Drehstuhl vor dem Computer, Barhocker vor dem Schrank. Meine andere, rote LED-Leiste habe ich im Flur, ein paar Schritte auf dem Weg zum Badezimmer, auf einem hohen Holzregal abgelegt ... damit verdoppelt sich gerade die Clubfläche. Und ... es ist nur echt, wenn dann auf der Toilette in der Disko das Klopapier fehlt und alle ist! So authentisch...
Die Musik läuft die ganze Nacht, das kleine Mischpult neben dem Bildschirm und meinen Monitorboxen als Control Room macht sich wirklich gut, ich kann mit einem Handgriff (auch herübergelehnt von der Couch aus) den Lautstärkepegel nach Bedarf anpassen. Da die DJ-Sets von unterschiedlichen Quellen kommen, sind die nie gleich. Alles schön innerhalb der grünen LEDs halten (ich hatte für den Soundcheck nicht genug Zeit und mußte ja auch ewig mit meiner Lichterkette herumtrödeln).
1 Uhr, 2 Uhr, Mitternacht ist schon längst vorbei ... wie lange läuft das noch? Und was sind das für alte Party-Fotos, die in dem Videostream eingeblendet werden? Es sind Fotos von vergangenen Festivalwochenenden die letzten Jahre in Leipzig, es ist der Innenhof vom Werk 2 - aber die Sonne so weit oben im Osten? Großer Gott, das ist vormittags! (Ich habe das so noch nie gesehen.) Jetzt wird mir auch klar, wie das mit dem gerade laufenden Stream des Online-Festivals und der Timetable mit den verwirrenden Angaben "a.m." und "p.m." gemeint ist - die machen durch! Bloody maniacs! Ihr Wahnsinnigen! Das geht wirklich noch ohne Pause bis in den Montag Morgen. Klar ... die DJ-Sets werden von überall, rund um den Globus, live dazugeschaltet, momentan läuft die Nacht bis in den Morgen, bzw. Vormittag, die Sets der französischen DJs, aber da ist es sowieso egal, ob Tag oder Nacht. Würde ich pausenlos mit dabei bleiben wollen, müßte ich die nächsten 72 Stunden auf Schlaf verzichten. Ich regele langsam wieder die Lautstärke runter und lege eine kleine Pause ein...

Sonnabend Morgen, 8 Uhr nochwas, kurz vor dem Frühstück, ich stehe nach ein paar wenigen Stunden wieder auf und setze mich als erstes vor dem Computer und klinke mich in den Livestream - der nach wie vor läuft. 9 Uhr nochwas ... ich wollte schon immer mal aus dem Club fallen, zu wummernden Beats ins angrenzende Badezimmer unter die Dusche gehen und beim Abtrocknen und nassen Haaren danach einfach weitertanzen. Techno ist das neue Punk!

[17.05.21 / 23:40] Gruppe 3 fällt ... und so langsam werden die Leute erkennen, daß es von Anfang an nie genug Impfstoff oder Termine gegeben hat, das waren immer nur politische Machtspielchen. Ich klicke weiter mehrmals am Tag auf den Button der Internetseite für die Impftermine, ich habe sogar ein "Lesezeichen" im Browser eingerichtet, für den Schnellzugriff, und komme mir seit Wochen immer mehr vor, wie eine verlassene Laborratte in einem Käfig, deren Futterspender schon lange nicht mehr aufgefüllt wird - oder es nie war.
Ich gebe auf, abgesehen von dem täglichen Automatismus und der zermürbenden Reflektierung der Wirklichkeit, ich glaube nicht mehr daran, ob mir der Impfstoff noch etwas bringt, oder den meisten Menschen, ich habe die schweren Fälle nie gesehen oder kennengelernt. Ich sehe nur die panischen Bürger, die sich einer Hysterie gleich, gegenseitig anbrüllen, schubsen, drängeln, die Geduld verlieren, Blicke zuwerfen und eine Heilung einfordern für eine vermeintlich tödliche Krankheit, derer sie nie ausgesetzt waren oder es nie werden.
Ich habe davon keine Ahnung, ich habe nie Politik oder Medizin studiert, eigentlich geht es mir gesundheitlich ganz gut - bis auf die psychischen Abgründe und die seelischen Probleme. Ich will es nicht ansprechen, ich vermute eine hohe Dunkelziffer an...

[07.05.21 / 13:11] Nachtrag +1: Über die Internetnachrichten erfahre ich, daß die drei Priorisierungsgruppen für den Vektorimpfstoff komplett entfallen sind - jeder der will, im gesamten Bundesgebiet, kann sich jetzt impfen lassen ... sofern er einen Termin bekommt, sofern überhaupt etwas von dem Stoff da ist. Auf der anderen Seite stehe ich, zusammen mit all den anderen chronisch kranken Risikopatienten, auf einer Warteliste beim Hausarzt für den alternativen mRNA-Impfstoff, aktuelle Wartezeit: "Vier Wochen" (hier sind noch nicht mal alle aus den ersten beiden Gruppen geimpft).
Ich komme mir richtig doof vor, mit meinem Zettel, mein "Attest" für die Reihenfolge gemäß "Impfverordnung", wenn ich weiß, da sind vor mir noch richtig schwere Fälle und Einzelschicksale ... während auf der anderen Seite schon die Leute auf den freigegebenen Vektorimpfstoff drängeln und für sich ausrechnen: Jetzt die erste Dosis ... in zwölf Wochen die zweite? Scheiß drauf, die ziehe ich einfach sechs Wochen vor, dann kann ich rechtzeitig im Sommer Party machen und in den Urlaub fliegen! (Das war auch mit mein Gedanke.)

Wenn schon frei, dann richtig und freiwillig - und nicht an Bedingungen geknüpft, à la: Du bist geimpft, du darfst hier rein - du nicht, du siehst scheiße aus. In diesem Bundesland sind demnächst wieder Wahlen und ich beginne mich immer weiter politisch zu radikalisieren...

[04.05.21 / 01:08] Die andere Seite. Eigentlich schreibe ich meinen Tagebucheintrag von eben nahtlos weiter, aber das paßt hier nicht thematisch (wie bei Domian in seiner Sendung - neue Anruferin, neues Thema, neue seelische Abgründe). Die letzten Nächte in Folge schlaflos bis in den Morgen, ich hatte ein Traumbild, eine Beschreibung, wie sich das anfühlt, die vielen unruhigen Stunden auf dem Kopfkissen: die Evasion von schlafraubenden und kräftezehrenden Gedankenfragmenten, die unaufhörlich über Stunden (!) wie in einem tiefschwarzen Gewittersturm mit Blitzen und kalten Sturmböen über eine tote, unwirkliche Landschaft fegen, die nicht von dieser Welt ist.
Ich kann die Gedanken in dem Moment nicht mehr kontrollieren, sie sind wie Hagelschläge oder eine rollende Lawine. Ich denke sie nicht zu Ende, sie drehen sich im Kreis, beginnen von vorn, schließen nahtlos ohne Pause an, verschlucken den Gedanken davor. Ich habe Angst ... gehe ich zum Arzt wegen meiner Schlaflosigkeit und depressiven Zustände, bekomme ich nur neue Medikamente, Tabletten, Psychopharmaka und rutsche immer weiter in meine "Psychiatriekarriere", einmal eine Nacht in der Geschlossenen verbracht, ist prägend.
Ich bin raus, ich will mein Leben zurück, ich will nicht mehr von dem Zeug abhängig sein. Es ist diese doppelte Seite der Antidepressiva und Schlaftabletten, für einige Ärzte helfen diese und sind das beste, was sie mir nur dringlich empfehlen könnten - für andere Menschen in meinem persönlichen Umfeld und andere Mediziner: "Laß die Finger davon, das macht dich nur noch mehr psychisch krank." Ich will nicht so enden, als Langzeitpatientin in der Psychiatrie, auf ewig ruhig gestellt. Ich habe die Wahl, ich kann mit sechzig oder siebzig Jahren sterben, an "Gehirnmatsch" durch die verschiedensten, medizinisch-psychiatrischen Behandlungen - oder mit hundert Jahren, dann aber schon die letzten dreißig Jahre vollkommen dement wegen chronischen Schlafmangels und haufenweise neurologische Schäden im Gehirn. Für beides habe ich die genetische Disposition.

Die MS ... schön, daß ich mal wieder darüber ein paar Zeilen schreibe (Sarkasmus). Die Sehstörungen kommen und gehen seit zwanzig Jahren, die "Augen-Migräne" mit den flackernden Linien ist harmlos und hat damit eigentlich gar nichts zu tun, das passiert hinten im Gehirn, in dem Teil, in dem die Bilder zusammengelegt werden und das, was wir sehen, entsteht - deswegen ist diese zackige Linie auch eher ein blinder Teil der fehlt, für den keine Information darliegt und es ist unabhängig von den beiden Augen und dem Sehnerv. Aber wenn es nur ein Auge und einen Sehnerv betrifft, wird es gefährlich.
Wie immer (gehört zu meinem Leben), ein grauer, matschiger Fleck bildet sich innerhalb von Minuten in dem Sichtfeld eines Auges, mal trifft es das linke, mal das rechte. Ich kann den Fleck als klar umrandete Fläche genau erkennen, er ist nicht blind. Bleibt er nur für ein paar Minuten, muß ich damit leben, geht er nach 24 Stunden nicht mehr weg, ist es ein Schub ... ist aber seit Jahren nicht mehr passiert. Was bemerkenswert ist: ich schließe das sehende Auge und verenge mit der vorgehaltenen Hand und einem Spalt zwischen den Fingern das Sehfeld mit dem Fleck auf dem offenen und betroffenen Auge ... drehe meinen Kopf. Der Fleck ist wirklich nicht blind, ich kann hell und dunkel unterscheiden, zwar keine Konturen erkennen (es ist nur ein Fleck), aber ich könnte mich so noch im Raum orientieren. Ich sehe, wo das Fenster mit dem Tageslichteinfall ist. Sollte diese Entzündung im Sehnerv irgendwann einmal nicht mehr verschwinden und im unaufhaltsamen, mit der Zeit fortschreitenden Krankheitsverlauf für immer bleiben ... es wäre vielleicht doch nicht so tragisch (jedenfalls so lange ich noch zwei von den Sehnerven habe, und die nur unterschiedlich langsam kaputt gehen). Vielleicht passiert auch gar nichts.

Die aktuelle "politische" Situation: Ich will mich ja nicht als Querdenker outen, ich mag die nicht, die haben uns den "Regenbogen" gestohlen, aber ... das mit der Impfkampagne. Die Nachrichten lese ich nicht mehr, die Meldungen und Interviews im Fernsehen schalte ich weg - das ist alles Propaganda! Jetzt mal im Ernst, habt ihr mal das Buch "1984" gelesen? Ich schon, das ist wirklich gut und steht in meinem Bücherregal. Das darin beschriebene Ministerium weist so erschreckende Parallelen mit der jetzigen Wirklichkeit auf. Ich kann in diesem Fall nur noch schwer zwischen Dystopie und Realität unterscheiden.
Ich weiß, ich bin in Priorisierungsgruppe 3 (aufgrund der MS und den immunmodulierenden Medikamenten), ich habe den Nachweis dafür. Aber wenn jetzt vom politischen System großspurig Durchhalteparolen ausgesendet werden und mutmachende Erfolgsnachrichten (hat auch seinen Zweck) - und verkündet wird, wir sind bald mit dem Impfen der dritten Gruppe durch und dann gibt es: "Impfstoff für alle!" Und ich hier in der tiefsten Provinz sitze, in der die Kommunalbehörde irgendwann zwischen Februar und März Anfang des Jahres mit dem Impfen der ersten und zweiten Gruppe in den Altersheimen und Pflegeeinrichtungen stecken geblieben ist und es keine Nachrichten und Kommunikation mehr gibt, außer: "Wir sind noch nicht soweit, wir haben nicht genug Impfstoff, wir müssen noch die ersten beiden Priorisierungsgruppen versorgen. Wir machen erst weiter, wenn wir wieder mehr zugeliefert und von oberer Stelle verteilt bekommen", dann ... fühle ich mich doch schon irgendwie verarscht.
Ich will, daß all die Mitmenschen mit den dringenden gesundheitlichen Problemen auch wirklich fair eine Chance auf den Impfstoff in dieser grassierenden Viruspandemie bekommen, dafür sperre ich mich auch weiterhin in meiner Isolation ein, bis ich an der Reihe bin (ich komme so gut zurecht), aber dieser Propagandakrieg, wer ist die beste Nation auf dieser Welt und bekommt alles viel schneller und effizienter hin, als die anderen Versagerländer (Dritte Welt?), kotzt mich einfach nur an. Dafür haben wir damals bei den Demos, aus dem antifaschistischen schwarzen Block heraus, nicht die Bierflaschen auf die Polizeiautos geworfen! [Anm. der Verfasserin: Das mußte jetzt einfach sein ... war mal wieder 1. Mai.]

Nachtrag: Die Hotline angerufen ... das lokale Impfzentrum hat immer noch keine freien Termine - aber in zehn Tagen wird in diesem Bundesland die dritte Gruppe vollständig geöffnet! (Dann werden, von mir geschätzt, aus landesweit 0,55 Millionen Berechtigten gleich 1,1 Millionen ... ich glaube, die haben mich vergessen.)

[04.05.21 / 01:07] Ich werde einfach ein Bitcoin-Punk und schnorre virtuell ein paar Münzen. Mir wird nie jemand eine reale Arbeit anbieten, ich bleibe für immer arbeitslos und es widerstrebt mir, meine "Programmierkünste" für Geld anzubieten. Alle Menschen mit Bitcoin sind unermeßlich reich und alle Menschen, die echtes Geld in diese virtuelle Währung tauschen, sind entweder verrückt, unwissend oder voller Hoffnung und Glücksgefühl und danach arm und bankrott. Also warum noch den Gedanken verfolgen, Teile meiner (seit Jahren) in Entwicklung befindlichen Mail-Software (mit Verschlüsselung und allem Drum und Dran) für eventuelles Kryptogeld anzubieten. Meine Software war immer frei und kostenlos und wird immer frei und kostenlos bleiben ... siehe die entsprechenden, im Internet kursierenden Softwarelizenzen / Philosophien mit anarchistischen Zügen.
Vorbereitung ... was ist eine Wallet? Wie funktioniert das mit der Blockchain? Wo kommt das Geld her? (Und wo geht es wieder hin?) Die Szene hat den Ruf einer "Wild-Western-Stadt". So ganz naiv kann ich da nicht herangehen, ich muß mir erst einmal die ganzen Dokumentationen durchlesen ... "Read the fucking manual." Wieviel bin ich bereit in Technik (und Zeit) zu investieren? Reicht die Hardware, die ich schon habe - der Zug mit dem Mining ist schon seit Jahren abgefahren, die Kurse sind geradezu inflationär - lohnt sich das überhaupt noch? Kurz vor dem Krachen. Sofern die ganzen Irren da noch auf den Zug springen, wird schon was gehen. Ich entscheide für mich, die beiden Welten, die mit echter und harter Währung und die mit der virtuellen und spekulativen Währung, niemals zu mischen ... wenn ich jetzt die Euros vom Girokonto in ein paar Goldklumpen tausche, was mache ich dann mit dem Säckchen voller Nuggets an der Drogeriekasse? In dem Moment ist es wertlos.
Das mit der Verschlüsselung ist manchmal schwierig zu durchschauen, ich bin damit vertraut und mache schon seit Wochen in meinem anderen Projekt am Computer nächtelang nichts anderes. Das mit dem Seed finde ich aufregend und chiffriere das Stück Papier auf eine ganz klassische, "oldschool" Variante (so etwas wollte ich schon immer mal tun) ... "Security by obscurity." Die Anleitungen der verschiedenen Wallets sind da ganz hilfreich - sofern die neue Benutzerin sich die Zeit nimmt, das ganze auch vorher (!) wirklich durchzulesen und halbwegs zu verstehen, was da jetzt passiert und wo die ganzen Risiken liegen. Selbst ich habe Nächte und viele Internetseiten später immer noch nicht die richtige Ahnung davon.
Es dauert, Ungeduld und Gier auf das schnelle Geld wäre hier fatal. Es ist eine globale und im Schatten liegende IT-Industrie. Viele enttäuschte Nutzerkommentare schrecken ab. Es gehört schon viel Mut und Dreistigkeit dazu, mitzuspielen ... allein die wahnsinnigen Transaktionsgebühren - wer profitiert da wirklich von? Schattenmenschen.
Nachdem ich mit meiner Hardware soweit bin und alles an Software eingerichtet habe, sitze ich die Nacht vor dem Computermonitor und bastele an meinem Werbebild, es soll etwas Sympathisches werden mit: "Hey, gib mir Geld!" So wie alle Punks am Bahnhof, die mich anquatschen und die ich so gerne mit ein paar Cent unterstütze, obwohl ich selbst manchmal kaum etwas mehr in meiner Tasche habe ... einfach, weil ich diesen unkonventionellen Lebensstil so idealisierend finde. Frei von bürgerlichen Zwängen.
Es muß etwas werden mit einem Bild von einem Bahnhof und einem Bild von mir, in Punkerkutte! Ich verkaufe Emotionen, das ist nicht einfach betteln. Ich wähle das Foto von meiner Sizilienreise 2012, mit dem Bahnsteig: "On the railroad", und das Selfie von mir von meiner Ibizareise 2019 auf dem Felsen am Meer: "Rough globetrotter". Letzteres Bild ist authentisch, naturnah, ohne Make-up, nicht gekünstelt - es ist echt ... und in HD (wie beschrieben, ich muß den potentiellen Spendern etwas bieten für ihr Kryptogeld).
Fehlt nur noch ein fescher Text und der QR-Code mit dem Link zum Bezahlen. Was vielleicht nur mir auffällt ... die QR-Code-Generator-Software, die ich verwende, liefert ein leicht anderes Ergebnis, als die Software zum Generieren des QR-Codes der Bitcoin-Wallet. Nur minimal ... ein paar schwarze "Rechteck-Bits" sind abweichend angesteuert, das Muster ist nicht zu hundert Prozent identisch bzw. deckungsgleich, der Algorithmus der beiden Open-Source-Softwareprojekte wurde (höchstwahrscheinlich) unterschiedlich implementiert. Der QR-Code mit seiner eingebauten Fehlerkorrektur liefert in beiden Fällen aber dasselbe, unverdächtige Ergebnis ... "Ein bißchen Paranoia schadet nie." (Altbekannte IT-Weisheit.)
Ich hänge fest, die Computeruhr in der Taskbar tickt, 1 Uhr, 2 Uhr ... 4:30 Uhr, die ersten Vögel fangen da draußen vor dem Dachgeschoßfenster schon wieder an, der Straßenlärm mit den Berufspendlern geht los. (Wer steht so früh auf?) Ich kriege seit Stunden nichts mehr hin und schiebe nur noch in der Grafik-Software die Ebenen übereinander, ohne wirklich zu einem Ergebnis zu kommen und verwerfe alles wieder nach gefühlt jeder Viertelstunde. Der Hintergrund mit den beiden Fotos ist ganz klar nach dem Goldenen Schnitt aufgeteilt, das habe ich den Nachmittag schon gemacht, das Arrangieren der anderen Bildelemente in der Collage gelingt mir nicht. Mir reißt der Geduldsfaden, kurz vor 5 Uhr den Montag Morgen gebe ich frustriert auf. Das kann ich nicht mit meinem Hang zur Perfektion verantworten (ich hätte schon viel früher so übermüdet ins Bett gehen sollen). Dann eben morgen!
Fünf Stunden später ... ich spüre meine körperliche Verfassung nach dem Aufstehen, zitternd, verkatert, die Nacht am Computer durchgearbeitet (am Stück seit Sonntag Nachmittag so dreizehn Stunden). Frühstück und zwischen 11 und 12 Uhr wieder dransitzen, ich muß es fertig bekommen! Den Text für die Werbegrafik setze ich neu auf, schreibe ihn um, verändere ein Wort für die psychologische Wirkung (das ist nicht einfach nur ein Bild, das ist harte, gestalterische Arbeit) und arrangiere die Bildkomposition neu nach architektonischen Prinzipien (jede Pixelposition ist genaustens berechnet). Auf ein paar gestalterische Spielereien muß ich verzichten, das Gesamtbild wirkt sonst überladen, die Auflösung des ineinanderfließenden Werbefotos bleibt in HD, das macht es für den Betrachter besonders und wertvoll. Ich habe keine Ahnung, ob es wirklich jemand anspricht - aber die Arbeitsstunden, die ich da hinein investiert habe? Allein dieser Wert übersteigt den zu erwartenden Gewinn um ein vielfaches (der auch bei Null liegen könnte). Ich bin eine langzeitarbeitslose Webdesignerin...?
Den frühen Montag Nachmittag ist das "Kunstwerk" fertig und wird von mir auf meinen Internetseiten hochgeladen. Die Angel auswerfen und abwarten... Was erwarte ich mir von meiner Aktionskunst? Das es viral geht? Das wirklich irgend jemand so verrückt ist, mir virtuelle Bitcoins zu spenden? (Und ist dieser Begriff auch nicht markenrechtlich geschützt?) Irgendein technikaffiner und kunstliebender, bourgeoiser, alter Knacker wird schon drauf klicken. (Ich bin so punk...)
Das Ganze ist in etwa so etwas wie, als würde ich mich hübsch zurecht machen, ohne das geringste Kleingeld in ein Spielcasino gehen, dort ältere Herren bezirzen, um mir ein paar Jetons ausgeben zu lassen und anschließend am Roulette-Tisch, vollkommen ohne eigenes finanzielles Risiko, alles wieder verjubeln ... Yeah.
Hat in meiner Vergangenheit schon funktioniert. Ich erinnere mich an die Nächte in den Clubs, Bars und Diskotheken, in denen ich nur das erste Getränk selbst bezahlen mußte - alle anderen danach wurden mir von jemand anders ausgegeben ... meist verfolgen diese Männer aber auch ganz eigene Absichten. Nichts ist umsonst.
Ich probiere es aus...

[26.04.21 / 18:20] Der dritte Abend des Online-Musikfestivals ... ich hatte ja keine Ahnung, was mich da erwartet. Punkt 19 Uhr geht der Videostream los, ich bin auf die Sekunde genau pünktlich und schalte mich dazu. Die ersten DJ-Sets, die ersten Bandauftritte, alles schön. Ich will es den Sonntag Abend entspannt angehen und verzichte auf die Extras von dem Abend davor, keine Lederjacke, kein Make-up, kein Nietengürtel, kein Barhocker - nur bequem in der schwarzen Freizeitkleidung vor dem Computerbildschirm sitzen. Mit der rechten Hand das kleine Mischpult einpegeln, den Regler für die Verstärkung nach Bedarf anpassen ... nicht zu laut werden, andere Menschen in der Nachbarschaft müssen den nächsten Morgen früh zur Arbeit gehen.
Ich habe das Gefühl, die DJ- und Bandaufstellung für diese Nacht wird etwas diverser, ein paar Namen im Programm lassen darauf deuten. Den einen in der Szene bekannten Künstler kenne ich auch schon, das war 2012 bei einem Festival in Berlin. Ich stehe auch diesen Abend vor meiner imaginären Computer-Bühne mit meinem Getränk in der Hand und lasse den Auftritt auf mich wirken. Ist das live? Während das Video mit dem Konzert in irgendeinem Raum oder Wohnung oder Studio läuft, sehe ich am Bildschirm ein paar Mitglieder des professionell agierenden Teams mit Videokameras, es wird aufwendig hin und hergeschnitten (Kamera Eins, Kamera Zwei, Kamera Drei). Die Musik ist purer EBM. Alles wirkt authentisch und nah, mit Pausen am Mikro zwischen den Liedern ... und irgendwie soll noch eine Katze über die Studiotechnik gelaufen sein, aber ich habe nicht aufgepaßt (ich bin zu beeindruckt von dem ganzen).
22 Uhr, meine LED-Beleuchtung geht an - im tiefdunklen Rot ... und sie wird noch die ganze Nacht in diesem schummrigen, roten Licht scheinen: "Ich habe meinen eigenen Dark Room!" Die weiteren DJ-Sets und eingespielten Live-Musikaufnahmen (ob vorher aufgezeichnet oder nicht) behalten den musikalischen Stil bei. Subversiv, schwul, knallharte elektronische Beats zu schmutzigen Synthesizer-Riffs. Mal tanze ich mich schwitzend in Ekstase vor meinem aufgebauten Stroboskop-Gewitter, mal sitze ich staunend vor dem Bildschirm und betrachte die Videokunst ... die rauhe Punk-Attitüde, mit der manchmal das Gesangsmikrofon gnadenlos übersteuert wird, widerspricht eigentlich meiner Hingabe für Perfektion in der Studiotechnik. Egal...
Die rote LED-Leiste in meinem Zimmer ist aber auch dunkel, mir wird schon ganz schlecht vom Tanzen, ich lasse mich mehrmals in mein altes, schwarzes Sofa mit der Leopardendecke fallen und wiederhole mein Mantra: "Ich habe meinen eigenen Dark Room..."
Irgendwie kurz vor Mitternacht, das ein oder zwei Stunden laufende DJ-Set mit dem Künstler, den ich einige Zeilen vorher beschrieben habe (eigentlich sind es zwei, sie teilen sich auch hier wieder die stimmungsvolle Location, das Konzert und die DJ-Technik), nimmt kein Ende ... und da kommen noch zwei oder drei Programmpunkte für den letzten Festivaltag. Du kannst doch nicht noch einen weiteren Hammer-Titel auflegen? (So lange wollte ich gar nicht wach bleiben.) Spätestens um null Uhr dreißig oder so wird mir klar, warum sich das wahrscheinlich so hinauszögert ... jetzt kommt der nächste Programmpunkt: ein DJ-Set mit BDSM-Performance.
"Ich habe tatsächlich meinen eigenen Dark Room?" Fasziniert sitze ich im Rotlicht vor meinem Computerbildschirm - ist ja nicht so, daß ich so etwas nicht schon in Leipzig (oder Berlin?) gesehen hätte (und ich habe diese Parties und diese Clubs geliebt und dort einige interessante Männer kennengelernt) ... aber hier auf dieser Streamingplattform? Es könnten Kinder zusehen! (Die hier sonst mit virtuellen Bauklötzern spielen, anderswo ist auch gerade Tag.) Im Chat-Fenster wird humoristisch über die Jugendfreigabe diskutiert.
Es folgt noch eine entspannte Ambient-Kunstperformance, die ich dankend und erschöpft von den drei Tagen entgegennehme, und das kleine Festival nähert sich so um 2 Uhr den frühen Montag Morgen dem Ende. Ein abschließender Auftritt eines Solo-Künstlers, der mich nachdenklich stimmt ... ein oder eine BIPoC im queeren Outfit mit ultrakurzem Minikleidchen, aber visuell von der Kunstinstallation her höchst anspruchsvoll. Seine oder ihre oder egal, Texte sind voller Zorn - ich wünschte, ich könnte den Inhalt verstehen. Wenn du in dem Kleidchen so auf die Straße gehst, kannst du dir nicht sicher sein, ob du die Nacht überlebst. Mir wird wieder bewußt, daß ich eine privilegierte, weiße Transfrau bin - ein Meter siebzig, zierlich und mit langen, blonden Haaren. Nicht einmal meine tiefe Stimme verrät mich, ich kann Männer mit meiner Erscheinung blenden ... würde ich mich nicht immer so ausgesprochen androgyn kleiden und an meiner weiblichen Ausstrahlung zweifeln (sie geradezu verstecken). Wäre ich riesengroß, muskulös, schwarz oder anderer dunkler Hautfarbe, sehe die Welt noch beschissener für mich aus. (Und trotzdem habe auch ich das Gefühl von Diskriminierung und Chancenlosigkeit.)

Dieser Abend und diese Nacht lief sehr überraschend und unerwartet für mich ... vielleicht kann ich die Impressionen in einem neuen Song verarbeiten, etwas mit einer Bassline unterhalb des technoiden Drumsets und einer scharfkantigen, analogen Synthesizer-Hookline.

[25.04.21 / 18:03] Der zweite Abend des kleinen Online-Festivals - meine Lichterkette habe ich immer noch nicht wiedergefunden, wenn hier etwas in dem Haus verschwindet, dann ist es verloren, für immer ... oder taucht Jahrzehnte später erst wieder auf. Ich stehe eine Stunde vor Festivalbeginn im Bad und steche kleine Löcher in leere Klopapierrollen, die ich dann, zurück auf dem Wohnzimmerteppich, über die LED-Leiste von letzter Nacht schiebe ... DIY Disco! (Ganz im Stil des DIY-Festivals.)
Noch mehr Party, noch mehr Flair, noch mehr Erinnerungen an Vergangenes - vor dem großen Spiegel im Bad stehen, Feuchtigkeitscreme im Gesicht und an den Augenlidern schwarzen Kajal auftragen. Mein schwarzes Tank-Top, der metallisch glänzende Nietengürtel, die schwere Punkerkutte mit den Buttons und Patches überziehen ... "Yeah, Death Rock Babe!" Die langen, blonden Haare durchkämmen, mich in meinen Club schieben.
19 Uhr nochwas, der Videostream läuft schon, ich pegele schnell die Anlage ein, stelle den Barhocker auf und schiebe ein bißchen Kram beiseite auf meinem Metallregal - das ist jetzt die "Bar" mit Platz für zwei Flaschen Wasser und ein Glas. Jedesmal, wenn ich etwas trinken möchte, gehe ich ein paar Schritte rüber zu meiner Bar, schaue in mein Portemonnaie, wieviel Geld ich noch habe (nicht viel) und gieße mir ein Glas ein ... irgendwie den eingespielten Rhythmus nicht verlieren.
Die Konzerte betrachte ich abwechselnd von meinem Barhocker aus oder stehe in ein paar Meter Entfernung vor dem Computermonitor - mit dem Glas oder der Flasche Wasser in der Hand ... wie als würde ich wirklich irgendwo vor einer Bühne stehen, inmitten vieler Menschen. Es fehlt mir, daß ich das alleine mache, zwar ist auf dem Bildschirm neben dem laufenden Video ein kleines Chat-Fenster ... aber immer wieder ein paar Schritte davor gehen und die kleine Schrift lesen? Wenigstens sind ein paar Kommentare sehr lustig.
Die DJ-Sets ... OK, jetzt geht die Sonne unter, ich kann meine Diskobeleuchtung an machen. Vielleicht sind ein oder zwei Sets nicht mein Stil und ich stehe eher leicht zweifelnd und lächelnd neben meinem Barhocker - aber die anderen Sets danach: "Wahnsinn..." (Ich führe Selbstgespräche, aus Mangel an menschlichen Kontakten.) Die Punkerkutte ablegen, den Strobo einschalten und tanzen.
Den einen Künstler (jetzt wieder ein eingespielter Synth-Auftritt) kenne ich schon (ich habe ein paar Alben), der ultralange Track mit dem hypnotischen Beats und dem Vocoder-Gesang erinnert stark an die Moroder-Platte in meiner Vinyl-Sammlung (die ganze A-Seite ist so ein Stück in dem Stil), die Musik, zu der ich gerade vor dem Bildschirm tanze, ist dem ebenbürtig. (Ich weiß, wovon ich schreibe, ich versuche den frühen, elektronischen Stil aus den 1977/80ern auch ständig auf meinen Synthesizern zu kopieren - und schaffe es nie.)
Dann, die Sonne ist weg, ein DJ-Set aus Israel, mit israelischer Underground-Music ... so richtig den mediterran-orientalischen Stil, gemischt mit dem Wave, der mich an die so geliebten, alten italienischen Underground-Bands erinnert - ich liebe es! Der Strobo blitzt wie verrückt, die LED-Leiste über mir leuchtet im dunklen Rot, ich tanze auf meinem Teppich in psychedelische Sphären und werfe meinen Schatten an die weiße Wand. Auch wenn die im letzten Blogeintrag versprochene Drag Performance nicht kommt, dann mache ich das jetzt! Mein weiblicher Schatten performt eine Folge eingeübter und zu der Musik fließenden Tai-Chi-Bewegungen.
Es kommen noch ein paar gute DJ-Sets, aber ich bin außerhalb meiner Kondition und liege nur noch auf meinem "Lounge-Sofa", das Smartphone in der Hand ... "Wo sind meine Kontakte?" Ich bewege mich nur noch mal ab und zu auf die "Disko-Toilette" - aber dabei nicht die Flasche Wasser vergessen! Das Getränk aus der Bar in dem Club niemals aus den Augen verlieren (schon gar nicht, nachdem ich so "sexy" auf der Tanzfläche war). Den eingespielten Rhythmus nicht verlieren.
Kurz vor Mitternacht wird in dem Stream des Online-Festivals noch eine aufgezeichnete Performance einer Künstlergruppe aus den USA gezeigt ... wahrscheinlich den USA, ich sitze jetzt wie gebannt vor dem Computerbildschirm und entnehme aus dem Chat-Fenster daneben, daß diese Gruppe wohl schon auf dem Burning Man aufgetreten ist. Noch psychedelischer geht die Musik und die Bühnenshow (mit Feuer!) nicht ... "Waaahnsinn!"
Null Uhr Mitternacht ... das war jetzt richtig gut. Ich drehe langsam die Regler an meinem Mischpult runter und entferne mich sanft aus dem Videostream des Festivals. Auch diese Nacht möchte ich nicht so lange machen. Aus dem Chat-Verlauf entnehme ich, daß die letzte Nacht die Aftershow-Party bis in den nächsten Tag ging ... zumindest bis in den Morgen. Die DJs diesen Teil des Videostreams sitzen in Paris - und dort wird die Ausgangssperre noch viel schärfer kontrolliert, die müssen das bis in den nächsten Morgen durchziehen! Party total ... (ich bin zu alt und habe das vor zig Jahren auch so gemacht - das ist erst richtig, wenn du den nächsten Sonntag Vormittag aus der Disko fällst und der Bäcker für das Frühstück mit Croissants und Kaffee gerade "noch" offen hat).

[24.04.21 / 16:19] Da ist sie, die nächtliche Ausgangssperre - von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens. Es fällt mir schwer, noch darüber zu schreiben ... warum sollte ich auch nachts aus dem Haus gehen wollen, am Wochenende? Da ist nichts ... und alles was war, liegt schon Äonen zurück.

Dieses Wochenende ist wieder ein kleines Online-Festival im Internet, Synth-Punk-Underground mit Einspielungen von befreundeten Bands, ein paar DJ-Sets, viel Musik zum Tanzen, mal live, mal kurz vorher aufgezeichnet. Die Idee mit den Interviews finde ich gut, so bekommen die Zuschauer des Videostream auch mal ein paar interessante Einblicke in die aktuelle Subkulturszene anderswo in Europa (oder der Welt).
Für mich ist das die Gelegenheit, mal aus der Lethargie auszubrechen, so "verrückte" Dinge zu tun wie ... mich den Freitag Abend vor dem Spiegel zurecht machen, meine kurzen und schwarzen Tops aus dem Schrank zu kramen ... vielleicht sogar mal Kajal zu tragen. (Mich nicht komplett verwahrlosen zu lassen.)
Das ganze Setting wieder in meinem Dachbodenzimmer aufbauen: die meterlangen Audiokabel (mit Cinch und Klinke), angeschlossen an dem kleinen Mischpult neben dem Computerbildschirm, ein Stereopaar geht an die Studiomonitore (CTRL ROOM OUT), das andere Stereopaar an die PA (=Stereoanlage und TAPE OUT). Eingang ist das Signal aus dem Internet und der Streamingplattform über den Line-out des Mainboard an das Mischpult (TAPE IN). Alles eingepegelt über die beiden Regler für die Ausgänge (CTRL ROOM und MAIN MIX) und der winzigen Anzeige mit den farbigen LEDs ... alles Grün, knapp über 0 dB, will ja nicht die Nachbarn wachhalten.
Kurz nach 19 Uhr den Freitag Abend geht das dreitägige Festival los, ich habe meine LED-Lichterkette nicht gefunden, da hängt jetzt stattdessen die bunte LED-Leiste aus meiner alten Küche, über der (wie immer) improvisierten Tanzfläche / Wohnzimmerteppich. Bis auf die in Rot, sind die anderen Farben aber viel zu hell, und es blinkt nicht, und überstrahlt den Strobo-Blitz ... aber der kommt sowieso erst nach Sonnenuntergang zur Aktion.
Mein Barhocker in zweieinhalb Meter Entfernung zu den Computerbildschirmen, die eingespielten Konzertmitschnitte beobachtend ... Ich steh' mal wieder ganz hinten und seh' nüscht. Ich muß mir für die nächste Nacht eine "Bar" aufbauen ... die Kleiderbügel mit den frischgewaschenen, schwarzen Kapuzenhoodies am Schrank, sind meine "Garderobe", das auseinanderfallende, alte Kunstledersofa ist meine "Lounge", der zweite Bildschirm (neben dem ersten) sind die "Visuals" mit einem uralten Schwarz-Weiß-Video von mir aus meiner kreativen Phase ... Post-Industrial-Kunstinstallation. Wenn jetzt eine Polizeirazzia kommen würde, weil es ist ja "Ausgangssperre" und "Alles verboten" und "Null Kontakte" - und ich bin ja auch sehr verdächtig mit den blinkenden und bunten Lichtern hinter der Gardine, dann würde ich denen - in meinem schwarzen Top und Nietengürtel auf meinem Barhocker an der Tür sitzend - wohl spontan so etwas entgegnen wie:
"Das macht dann fünf Euro Eintritt."
Verrückte Zeiten, wie im tiefsten Iran und das was ich sonst nur aus TV-Reportagen über die Jugend- und Subkulturszene in Teheran oder anderen Ländern mit ähnlich "umsorgenden" Regimes kenne.
Was ich schön finde ist, daß das Hauptprogramm des Online-Musikfestivals schon um Mitternacht endet und ich nicht unbedingt die Aftershow-Party mit den weiteren DJ-Sets sehen muß. Ich kann frei entscheiden, wann ich müde genug bin und ins Bett gehen möchte ... welches sich am selben Ort befindet - ich muß nur die Musik ausschalten und bin sofort zu Hause, und kann ins Bad gehen (Make-up entfernen, was ich in dem Moment gar nicht trage, nur imaginär).
Wenn ich das richtig erfahren habe, könnte irgendwann die nächsten zwei Nächte in dem Videostream auch mal eine Drag Performance kommen (auf jeden Fall irgend etwas queeres) ... ich weiß, daß es die damals in der alten Zeit, in der "Real-Zeit" auch mal in echt gab (so ganz dunkel daran erinnernd).

(Bin ich die Einzige, die sich verunsichert fragt, wann denn nun die Ausgangssperre eintritt - und dabei an das berühmte Schabowski-Zitat denken muß?)
"Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich."

[15.04.21 / 19:37] Der Anfang vom Ende. Seit einiger Zeit spiele ich mit dem Gedanken, für Bewerbungen auf Stellenangebote im IT-Bereich wieder meinen alten, männlichen Namen einzusetzen ... der "Herr Diplom-Ingenieur" von vor zehn Jahren. Alle meine Zeugnisse sind noch auf den Namen, meine Diplomurkunde, die verschiedenen Lehrgänge und das sehr viel bessere Arbeitszeugnis von meinem abschließenden Diplom- und Praxissemester. Der junge "Herr" macht seine Arbeit viel besser als die zickige "Frau" mit den Diva-Allüren und der totalen Arbeitsverweigerung Jahre später. Mal abgesehen davon, daß ich ein und dieselbe Person bin, mit ein und derselben Arbeitseinstellung, -motivation und -qualität, liegen zwischen diesen beiden Menschen für den von außen betrachtenden (und voreingenommenen) Arbeitgeber Welten.
Als Mann habe ich vor etwa zehn Jahren auch mehrere hundert Bewerbungen geschrieben, als Frau - speziell als Transfrau - kommen jetzt die ganzen Blicke der HR dazu. Die Hand mit dem Finger gegen die Stirn, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen: "Großer Gott, wen haben wir hier zum Bewerbungsgespräch nur eingeladen?"
Ich verändere meinen Lebenslauf, meine Bewerbungsunterlagen werden sowieso ständig neu angepaßt, das Foto verschwindet, der Vorname erhält wieder seinen männlichen Endbuchstaben zurück. Ich richte sogar eine Alias-Mailadresse ein - nach mehr als fünf Jahren bin ich im Internet wieder unter meiner alten Identität erreichbar. Sind die ersten zwei Bewerbungen noch experimentell, sieht die dritte Bewerbung schon richtig professionell aus, diesen "Herrn Dipl.-Ing. (FH)" würde ich wirklich einstellen wollen! Alles paßt, der Lebensweg, das Studium, der Wehrdienst. Das beschissene, letzte Arbeitszeugnis lasse ich weg, es gehört nicht zu ihm, es gehört zu ihr. Klick, Bewerbung gesendet.

Und jetzt? Ein Irrglaube, irgend jemand würde ihn nur wegen dieses klangvollen Titels einstellen wollen, oder mir eine Chance geben, an mein altes Leben und meinem Ingenieursabschluß anzuknüpfen (um überhaupt erst weitergehende Fachkenntnisse zu bekommen). Ich mache das ... weil es sich jetzt gut anfühlt, weil ich jetzt dieses Selbstvertrauen habe. Würde ich eine Absage als Frau bekommen, wäre ich zutiefst niedergeschlagen und würde an mir zweifeln ... bekomme ich eine Absage für den Mann, den ich gerade konstruiert und wiedererweckt habe, bin ich - mir fehlt das Wort dafür - ergriffen von dem Gefühl: "Ihr seid selbst schuld, wenn ihr so einen Top-Bewerber und IT-Professional ablehnt. Verreckt an eurem eigenen Stolz!"

Du spielst ein gefährliches Spiel ... jetzt als operierte Transfrau mir eine neue, alte männliche Persönlichkeit zu geben, könnte mir mehr schaden als nutzen. Langfristig gesehen, würde dieses Zerwürfnis zu einer unkontrollierbaren, emotionalen Instabilität führen. Es ist OK, wenn ich alle meine Persönlichkeitsaspekte im Gleichgewicht halte ... aber zurück zu dem Mann, der ich nie war? Ich werde niemals meine weiblichen Hormone absetzen, meine Operation bereuen oder alle meine feminin geschnittenen Kleider aus dem Schrank werfen! Ich bin und bleibe eine Frau. (Das sieht erst merkwürdig aus, wenn der "Herr" dann wirklich zum Gespräch eingeladen wird, aber so weit kommt es nicht...)

Noch ein Knacks mehr im Spiegel.

[08.04.21 / 15:25] Tut mir leid, aber ich schaffe das momentan psychisch nicht. Es passiert in den letzten Monaten immer wieder, ein Arzttermin oder ein anderer Termin auf den Vormittag gelegt, den Wecker früh genug zum Aufstehen gestellt, gegen Mitternacht (mehr oder weniger) früh genug ins Bett gegangen und ... nichts. Panik. Angst. Ich bin weit davon entfernt, einschlafen zu können. Warum? Letzte Nacht hat es doch noch funktioniert? Ich muß für den fixen Termin das Haus verlassen, das Grundstück verlassen, nach draußen gehen, Menschen begegnen. Was, wenn ich mit dem Auto auf der Straße, auf dem Weg zu dem Termin einen Unfall habe? Was, wenn ich mich mit einem unberechenbaren und überaus gefährlichen Virus infiziere (der gerade kursiert), oder jemanden mit diesem Virus (den ich wahrscheinlich schon längst in mir trage) infiziere? Mit tödlichem Ausgang? Kann ich soviel Risiko ertragen?
4:30 Uhr ... (nicht schon wieder) ich stelle die Weckerfunktion am Smartphone neben mir an meinem Bett aus. Vielleicht wache ich den Vormittag noch früh genug von alleine auf und kann den Arzttermin irgendwie noch telefonisch, ein oder zwei Stunden vorher, absagen ... ist das noch rechtzeitig? Das letzte Mal, ein anderer Arzt, waren die Reaktionen nicht so positiv, die haben sich auf meinen Termin eingestellt, andere Patienten "geblockt", tauche ich da nicht auf, ist das asozial, gemein, egozentrisch und verantwortungslos. Auf mich kann man sich nicht mehr verlassen. Und ich mache genau dasselbe schon wieder...
Am Telefon spüre ich die Verwunderung, die Frage nach dem "Wieso?" Der nächste freie Termin wäre erst wieder in zwei Monaten. Meine Medikamente reichen noch für die nächsten vier oder sechs Wochen, spätestens dann muß ich meine Angst überwinden und die Arztpraxis für ein Rezept aufsuchen. Ich wünschte, ich könnte das erklären ... warum ich es nicht schaffe, dahin zu fahren, die Wohnung zu verlassen, die Nacht vorher einschlafen zu können - und nicht in diese fast panikartige und nur von Sorgen und Ängsten getriebene Stimmung zu verfallen. Das ist alles so irrational ... ich kann nicht mal wirklich einen klaren Grund für diese Angst finden. Wenn es denn so etwas einfaches wäre, wie ... Spinnen. (Ich mag diese kleinen Krabbelviecher und würde sie am liebsten auf die Hand nehmen, aber die sind noch vorsichtiger als ich.)

Der nächste Tag, vor dem Computer sitzen, Nachrichten lesen, das Pandemiegeschehen verfolgen. "Neurologische und psychiatrische Langzeitschäden durch Covid-19: Entzündungen im Gehirn, Angststörungen und Depressionen." - Willkommen in meiner Welt. (MS-Patienten leben mit diesem Scheiß schon Jahre und sind durch ihre daraus resultierende, emotionale Instabilität bekannt und gefürchtet.)

Und? Was willst du jetzt tun? Da die ganze Welt gerade zusammenbricht und für die knapp acht Milliarden Menschen unmöglich so viele Psychotherapeuten, Psychiater und Psychopharmaka zur Verfügung stehen können, muß sich jetzt jeder einfach selbst helfen - und damit meine ich nicht den "billigen" Ausweg der Selbsttötung. Der Virus (der das hätte übernehmen sollen) ist in diesem Fall grausam makaber und trifft genau die, die es nicht verdienen, aber niemals einen selbst.
Umstellen, Anpassen ... wir sind Menschen. Die Lösung habe auch ich nicht gefunden, ich gebe nur nach und nach alles auf. Ich betrachte das Ganze jetzt mehr als so eine Art "biologischer Weltkrieg" - etwas, daß mehrere Jahre geht und tiefe Spuren und Einschnitte in einer Generation hinterläßt. Von meiner isolierten Lage und dem Blick aus dem Dachfenster auf die grau-blauen Wolken am Himmel, sehe ich die Welt da draußen nicht.

Ich bin auf eine Internetseite gestoßen mit Tips und Anregungen für Aktivitäten und Dinge, um mit dieser Gesamtsituation und den düsteren Gedanken fertig zu werden. Was mir hilft:
Kuchen backen (auch wenn der nichts geworden ist), beim Zubettgehen den Tag Revue passieren lassen, was habe ich alles getan und geschafft, Körperwahrnehmung und bewußte Muskelentspannung, in Kombination mit Atemtechniken, kein Tag ist für umsonst, Tagebuch schreiben, Gedanken notieren, düstere "wegschreiben", nicht nach Mitternacht in fremden Tagebüchern und Texten genau solche düsteren Gedanken wieder aufnehmen.

Tips und Anregungen von einer alten Freundin (die ich hier gerne noch aufschreiben möchte):
Du bist nicht allein auf dieser Welt, um dich herum sind noch andere Menschen. Hör auf, in deiner Blase da durch zu schwimmen, brich dein egozentrisches Weltbild auf. Fang endlich an, zu leben!

[06.04.21 / 01:07] Das Brummen der Halogenleuchten über dem großen Badezimmerspiegel die letzte Nacht, ich stehe mit dem Sprühreiniger in der einen Hand und dem nassen Microfasertuch in der anderen, vor dem Spiegel am Waschbecken und wische immer wieder wie verrückt die Flecken weg, die sich im Lichtkegel des Strahlers auf der spiegelnden Glasoberfläche neben meinem darin erscheinenden Gesicht bilden. 1 oder 2 Uhr nachts, ich kann weder schlafen, noch damit aufhören ... es ist, als würde ich, wie gefangen, so lange an meinem Spiegelbild herumwischen wollen, bis ich mein altes Ich wiedersehe. Wer bin ich?
Die Wohnung unter mir, in der meine Möbel aus meiner aufgelösten Wohnung aus Leipzig untergestellt sind (meine Küche, mein Schrank, mein Bett), ist nur eine Geisterwohnung - niemand wohnt darin. Die leeren Schränke sind nur Fassade, das Bett ist unbezogen. Flur und Wohnzimmer existieren nicht wirklich. Ich habe das Gefühl, mein weibliches Ich hat die geschlossene Station der Psychiatrie vor zwei Jahren nie verlassen - alles, was 2019 noch passiert ist, hat ihr zu sehr zugesetzt. Ich begleite sie nur in ihrem Rückzug, ich bin die Rumpfpersönlichkeit.
Mein männliches Ich, das vor vielen Jahren etwas technisches studiert hat - von dem ich überhaupt keine Ahnung habe - hat ein nie fertiggestelltes Softwareprojekt hinterlassen, ein hochkompliziertes Webmail-Programm mit umfassenden Verschlüsselungsalgorithmen. 8 Jahre später versuche ich das, mehr oder weniger, nachzuvollziehen und sein Werk zu vollenden ... mein dazugefügter Teil sieht nicht mehr so elegant aus. Wenigstens weiß ich noch, was "rekursiv" in den Kommentarzeilen bedeutet (jedenfalls glaube ich das, aber ich steige nicht wirklich dahinter).
Die Bewerbungen, die ich als Langzeitarbeitslose ab und zu schreiben muß, enthalten im Lebenslauf noch die Kenntnisse und Formulierungen von ihm aus der Zeit nach dem Studium vor mehr als 10 Jahren ... weder, was er geschrieben hat, noch die Anforderungen in den ganzen aktuellen Stellenangeboten, die mir per Newsletter zugeschickt werden, sagen mir etwas. Hier bin ich wirklich an einem Punkt, an dem mir bewußt wird, daß ich schon X Jahre aus der IT-Branche raus bin.
Aber wer bin ich nun? Ich bin die Persönlichkeit, die irgendwo in Asien aus einem Flugzeug purzelt, ohne Kenntnisse der landestypischen Sprache und Schriftzeichen, staunend und offen für Neues, sich einfach so durchschlägt. Vor ein paar Tagen hatte ich wieder meine alten Springerstiefel in der Hand, die, von denen ich mich aus sentimentalen Gründen nicht trennen kann, die, die ich auf meiner ersten 24-Stunden Zugreise 2004 nach Italien anhatte ... und auf allen meinen Zugfahrten quer durch Deutschland, auf unterschiedlichste Punk-Konzerte und Gothic-Festivals. Die Stahlkappenstiefel mit den (zuletzt) purpurfarbenen Schnürsenkeln, deren Laufsohle mit dem groben Profil sich dann 2013 nach einem Trip über den Atlantik abgelöst hat und die seitdem in der dunklen Ecke in der Bodenkammer, neben den abgestellten Reisekoffern, ein trauriges Dasein fristen.

Alle meine Teilpersönlichkeiten sind momentan wie Teile eines zerbrochenen Spiegels auf der ganzen Welt verstreut.

[01.04.21 / 03:24] Nachtrag zu meinem letzten Blogeintrag vor ein paar Nächten ... so einfach mit dem Einschlafen ist das nicht. 3 Uhr nochwas, alle paar Minuten stehe ich auf und laufe unruhig umher. Jedes Mal, wenn diese grauen Briefe den Tag vom Jobcenter kommen, kann ich die Nacht nicht mehr einschlafen (und die kommen alle paar Tage). Haut ab! Verschwindet! Geht weg! Ich mach eure Scheiß Briefe nicht mehr auf! Laßt mich endlich in Ruhe! Es sind die Briefe von der Leistungsabteilung, das sehe ich in der Zeile mit dem Absender. Es geht um "Korrekturen", "Stornierungen" und schlimmstenfalls sogar "Rückwirkend entfallener Leistungsanspruch." Mir geht es nicht gut.

Füße stillhalten und Kohle abgreifen.

[27.03.21 / 01:57] Wie geht es jetzt weiter? Seit gestern habe ich auch so einen Papierzettel für die Impfreihenfolge in der aktuellen Viruspandemie - ich bin in Priorisierungsgruppe 3. Blick in die Alterspyramide der Bevölkerungsstruktur in Deutschland - mindestens ein Viertel der Mitmenschen (Ü60) ist auch in dieser Gruppe, plus der Haufen mit so obskuren Erkrankungen wie "Rheuma, MS und HIV." (Ja, jetzt stehen wir endlich offiziell zusammen in einer Zeile!) So schnell, wie diese ganzen "Corona-Verordnungen" von einen auf den anderen Tag in Berlin beschlossen, durchgesetzt und wieder verworfen werden - und schon wieder der nächste Verrückte die Idee einwirft, die dritte Priorisierungsgruppe gleich ganz zu kippen, so schnell kann sich alles wieder verändern.
Die anderen da, die auf den Protestdemos gegen irgend etwas, mit Gegendemonstranten gegen wiederum diese Demonstranten - bin ich in der falschen WhatsApp-Gruppe, wenn mir solche Videos zugespielt werden? Düstere Vorahnungen, es könnte zu "politischen Instabilitäten" führen. Mir wäre es egal, mit was die mich da impfen, ich habe sowieso keine genetischen Nachkommen mehr und ich bin mit dem psychologischen Konzept der "Angstmedikation" durch meine Vorerkrankung vertraut (das bedeutet, ich werfe die Tabletten ein, damit ich keine Schübe bekomme - ob die ohne die blauen Kapseln nicht auch wegbleiben, traue ich mich nicht, herauszufinden). Heil den Echsenmenschen.
Ich habe immer mehr das Gefühl, ich lebe in einer Dystopie. So ziemlich jeder weiß, daß Viren mutieren. HIV und Aids gibt es seit 40 Jahren, Grippe gefühlt schon immer und kommt jedes Jahr neu. Und dann die hundert verschiedenen und nicht ungefährlichen Varianten an Herpes, Warzen, HPV und anderes Zeug (ich glaube, das hatte ich alles schon). Ich verfolge die Nachrichten, wie lange wollt ihr noch die Wellen zählen und vor jeder weiteren den Weltuntergang prophezeien? Das geht noch Jahre...
Die Wirklichkeit und ich, entfremden uns immer mehr. Bricht ein Bürgerkrieg aus? Versinkt alles in Anarchie? Leben wir so weiter, als ob es das nie gegeben hätte und stapfen über Leichen und Grabkerzen? Die einen sind so ignorant, die anderen verzweifelt. Wie geht es mir dabei, was mache ich?
Ich habe seit sechs oder sieben Wochen die Antidepressiva abgesetzt, beginne langsam wieder, normal zu schlafen. Das Schlafen neu zu lernen. Mein Immunsystem hat sich wieder stabilisiert. Zwar lebe ich immer noch in meiner selbstgewählten, sozialen Isolation zwischen Computerbildschirm und Fernsehcouch, aber ich vermisse nichts. Seit einem Jahr keine intimen Kontakte mehr, keine Körperberührungen - kein Sex. (War da mal was?) OK ... manchmal geht meine Phantasie doch auf Reisen, so der Morgen danach, ein Mann neben mir in meinem Bett: "Ich gehe mal kurz in meine Küche und setze auf dem Herd einen Kaffee auf. Möchtest du auch eine Tasse?" (Tatsächlich giert meine wieder aufgebaute Minibar in meiner neuen Küche gerade dazu, endlich wieder benutzt zu werden.) Spätestens in elf Wochen, so ungefähr Mitte Juni, wird auch die neue Couch aus dem Versandhandel für das neue Wohnzimmer geliefert ... hat eine Menge Geld gekostet (oder wird es noch).
Inwieweit die Strategie, die Briefe vom Jobcenter zu ignorieren und darauf zu hoffen, daß die Stütze nach dem erfolgten Weiterbewilligungsantrag noch bis zum Sommer weitergezahlt wird - ohne Sanktionierung auf Null wegen fehlender Mitwirkung oder Schlimmeres - wirklich aufgeht, weiß ich noch nicht. Irgend jemand auf dem Amt hat mich im Visier und vermutet wohl höchste, kriminelle Clan-Strukturen. Warum? Wieso? Was habe ich getan? Bedürftiger Bittsteller = Asozialer Abschaum.
Die kommenden Monate verbrauchen viel Disziplin, ich muß mich selbst motivieren, immer wieder dran zu bleiben und vereinzelte Bewerbungen rauszuschicken - auch wenn es sinnlos erscheint und wirklich niemals zu einem Arbeitsangebot führen wird (keine Qualifikation, keine Erfahrung, Trans-Vergangenheit und einen IT-Ingenieursabschluß für umsonst ... hatte ich hier alles auch schon). Ich setze mir eine neue Deadline zum Ende des Jahres: Bis 40 und nicht weiter.

Was mir die letzten Nächte noch so durch den Kopf ging (viel Zeit zum Grübeln): Ich wollte immer irgend jemand sein, der ich nicht bin. Irgend jemand von Interesse, vielleicht berühmt, vielleicht mit einem Talent, vielleicht mit einem aufregenden Beruf oder mit einer verruchten Vergangenheit. Nichts davon ist wahr. Meine Existenz gleicht der eines Sandkorns, welches von einer Ozeanwelle an den Strand gespült wird und in der nächsten Sekunde wieder in den Wasserfluten zurück verschwindet ... als wäre ich nie dagewesen, in diesem Milliarde Jahre alten Universum.

[07.03.21 / 14:46] Meine erste DJ-Session - zwar ohne Publikum und damit nur so etwas wie eine Probe, aber immerhin, ich habe das Equipment endlich mal aufgebaut. Sonnabend Abend, die Playlist habe ich auf 120 Musiktitel reduziert - aber das sind immer noch viel zuviel. Den Gerätekoffer auf dem kleinen Wohnzimmertisch aufstellen, alles verkabeln, den Laptop mit der Musikdatenbank und der DJ-Software per USB mit dem Controller verbinden, alles einschalten. Die Lichter am Controller blinken auf, den ersten Titel testweise anspielen, die Anlage auspegeln ... es dauert eine Weile, bis ich das mit dem Drehregler für die Vorverstärkung entdecke und überhaupt ein Ton ausgegeben wird. Wie mache ich das über die Kopfhörer? Warum wird das Anhören des als nächstes zu hörenden Titel schon über den Master-Ausgang an die Anlage gesendet? Ach, dazu ist der eine Fader da und der Knopf zum "Routen" zum Kopfhörer...
Bereit zum Start, die virtuelle Plattenkiste voll mit Titeln aus dem Synth-Wave-Genre der letzten 35 Jahre (also eigentlich nur die 80er und die 2010er). Der erste Titel zur Einstimmung - ein Zwanzig-Minuten-Ambient-Track (der Teil, bei dem sonst die ganze Anlage und die Lichter auf der Tanzfläche getestet werden und die ersten Gäste - in einer richtigen Disko - mit ihrem ersten Getränk vorbeischauen). Dann geht es los, Wave aus Mitte der 80er aus Italien, ich habe keine vorgeschriebene Playlist, ich spiele "on the fly" und wähle spontan die Titel, die vom Gefühl her und vom Stil am besten passen könnten. Schnell beschränkt sich meine Playlist nur noch auf ein kleines Sichtfenster von 30 bis 40 Titeln, sortiert nach der BPM-Zahl (oder was die die Software denkt, das ist die richtige Geschwindigkeit - hier muß ich für die nächsten Sets wieder so wie früher eigenständig "tappen").
Von der gespielten Musik bekomme ich nur die Hälfte mit, ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, über die Kopfhörer den nächsten Titel auszusuchen, vorzuhören, die Stellen zu markieren, wo setze ich ein, wo starte ich den nächsten Titel. Es hilft enorm, daß ich nur Musiktitel ausgewählt habe, die mir aus meinen alten Radiosendungen vertraut sind, die ich schon im Kopf hören kann (ich brauche nur den Namen zu lesen). Das "Einfangen des Beats" und das automatische Anpassen der Geschwindigkeit und laufendes, punktgenaues Starten des nächsten Titels (daher die Markierungen) ist eine richtige Erleichterung. Vorbei die Zeiten von meinen alten Mixtapes, als ich noch bis auf 70 ms die Beats manuell überlagert habe. So bleibt mehr Zeit zum Vorhören.
Einmal verpasse ich meinen Einsatz, ein anderes Mal setze ich eine Rhythmusfolge zu früh ein ("Erschießt den DJ!") und das mit den zwei Fader und die Mix-Lautstärke für die beiden Decks habe ich noch nicht ganz raus (es braucht Übung). Aber das ich nur aus dem Gefühl heraus die nächsten Titel spiele und noch gar nicht weiß, wohin die Reise geht, ist schon etwas beeindruckend Neues für mich. Am Ende werden es zwanzig Musiktitel in zwei Stunden (wovon der erste schon zwanzig Minuten gedauert hat). Entgegengesetzt zu meinen alten Playlists, schraube ich mich nach dem Intro langsam hoch, bleibe in der Differenzspanne von etwa 10 BPM (gefühlt so bei 135 bis 145 BPM) und schließe dann mit einem heruntergefahrenen, langsamen Titel als Finale wieder ab (so einen mit einer endlosen Feedback-Schleife am Ende, wird gerne von den auftretenden Künstlern als Zugabe verwendet).
Gerne hätte ich die Nacht noch weiter aufgelegt, aber der Abbau selbst dauert auch wieder seine Zeit. Kurz vor Mitternacht, die Regler herunterfahren, die Geräte ausschalten, das große Deckenlicht wieder anschalten, Kabel abziehen, den Controller in dem stabilen Koffer verstauen und alles wieder aufräumen. Wieder ankommen in meinem kleinen Zimmer auf dem Dachboden, der Musikclub existierte nur in meiner Gedankenwelt. Notiz für die nächsten Sessions: die Playlists noch weiter detailliert ausarbeiten - ich kann nicht alle meine Lieblingstitel auf den Decks auflegen - die einzelnen BPM-Werte wieder selbst eintippen und die Übergänge üben (schon fünf Jahre außerhalb der Routine). Was ich beibehalte, ist die neugewonnene Flexibilität, auch mal die Anordnung in der Playlist zu "variieren" und einfach nach Gefühl zu spielen ... vielleicht auch irgendwann mal live.

Morgana LaGoth, ex-Oscilloworld DJane.

[05.03.21 / 15:10] Nach düsteren Nächten folgen sonnige Tage. Neuzugang in meiner Schuhkollektion: die Keilsandaletten von vor ein paar Wochen und die neuen Wanderstiefel aka "Wald- und Wiesenschuhe" ... für Wald und Wiese. Der Sommer kann kommen (und ich habe noch haufenweise bunte und ungetragene Sachen vom letzten Sommer im Schrank, die ich damit kombinieren könnte).

[05.03.21 / 02:35] Morgana verschwindet ... es waren nie die Tabletten, ich liege nach wie vor die Nächte wach und schlafe bis in den späten Vormittag. Die Wirkung der Rehaklinik verpufft geradezu innerhalb einer Woche, mein Tages- und Schlaf-Wachrhythmus gleicht sich rasend schnell wieder der Zeit davor an. Tief in der Nacht der Lärm der vorbeirauschenden, tonnenschweren LKWs auf der einen Seite, das kleine Fenster, dicht abgehängt mit einem dunklen Baumwollhandtuch und der immerwährenden und niemals aufhören zu dröhnenden Fabrikanlage in Sichtweite, auf der anderen Seite. Tausche Schlaftabletten gegen Ohrstöpsel aus wattiertem Knetwachs ... von der einen psychischen Abhängigkeit in die andere.
Den Mittag, zum Frühstück, liegen Briefe vom Jobcenter auf dem Tisch. Ich weiß genau: "Mach sie nicht auf! Laß sie liegen, verbrenne sie, wirf sie ungelesen weg!" Da steht nie etwas Gutes drin. Zu viele traumatische Erfahrungen. Mit einem unwohligen Gefühl öffne ich sie doch ... sie wollen Kontoauszüge und Einblick in mein Vermögen von vor zwei Jahren. Warum? Was geht euch das an? Die paar wenigen hundert Euro "Kapitalertrag" habe ich schon längst in Wien und auf Ibiza verjubelt. Damals noch, in der alten Zeit, bevor die ganze Welt unterging.
"Die Patientin konnte sich glaubhaft von Suizidgedanken distanzieren." Zitat aus dem Entlassungsbericht der neurologischen Reha. Was die nicht wissen, es nagt weiter an mir und wird auch nicht besser. Das ich die Antidepressiva abgesetzt habe, hinterläßt Spuren in meiner Seele. Mir wird dringend angeraten, eine ambulante Psychotherapie zu machen - oder zumindest noch einmal eine "richtige" psychische Reha zu beginnen. Mir wird das alles zuviel. Die Listen mit den Telefonnummern und Adressen der Therapeuten habe ich nach meiner Rückkehr nicht einmal mehr angerührt. Die Briefe, die da jetzt neu dazu gekommen sind (die beiden da oben in den beschriebenen Zeilen, in den häßlichen Briefumschlägen) tun ihren Rest.
In der Klinik, in den Gesprächen, ist meine erschreckende Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit aufgefallen - die ganze Welt hat gerade dieses Problem! Draußen die Menschen, von denen ich glaube, daß sie da sind (ich höre den Straßenlärm), wirken auf mich nur wie seelenlose Maschinen, die nur noch automatisch funktionieren. Es ist, als hätte man ihnen gesagt, daß sie tödlich erkrankt sind und es keine Heilung mehr gibt - und sie wollen es nicht wahrhaben. Klammern sich an die fixe Vorstellung, daß alles wieder wie vorher wird ... doch das tut es nicht. Für mich gibt es keine Zukunft mehr. Morgana stirbt ... ganz langsam.

Traumszenen in kursiv, weit nach Mitternacht.

[22.02.21 / 23:33] Korrespondenz aus der Rehaklinik:

21.01.2021
So als erste Nachricht, heute und morgen bin ich in Quarantäne und darf das Einzelzimmer nicht verlassen (es hat aber eine große Balkontür, die ich öffnen kann, ich bin nicht eingesperrt). Das Essen wird mir noch die nächsten Tage gebracht - leider ohne irgendeine Auswahlmöglichkeit. In fünf oder sechs Tagen passiert der zweite Corona-Test und dann darf ich an den Therapien und den Mahlzeiten im Speisesaal teilnehmen (mit zugewiesenen Sitzplatz und Essen in zwei Durchgängen, ich habe glücklicherweise den mit dem späten Frühstück um 8 Uhr).
Damit mir nicht langweilig wird: Fernsehempfang gibt es nur mit 14 Sendern (die üblichen Verdächtigen), leider ohne 3sat und Arte. WLAN gibt es nur unten am Empfang, in der Lobby, gegen Aufpreis, und da komme ich jetzt nicht hin. Möglicherweise können in zwei Tagen schon die ersten (Einzel-)Behandlungen für mich starten. Ich habe aber genug Alternativen für mich eingepackt. [Anm. der Verfasserin: Mein Laptop mit meiner gesamten Musiksammlung.]

22.01.2021
Frühstück mit Blick nach draußen auf den Balkon vom Patientenzimmer. Schade, daß der Kaffee morgens schon eine Stunde früher kommt. [Anm. der Verfasserin: Westseite, hier werde ich noch schöne Sonnenuntergänge sehen.] Der erste Corona-Test vom Aufnahmetag ist negativ, die ersten Therapien (Physio und Ergo) beginnen für mich morgen Vormittag.

23.01.2021

Schnee in Sachsen
Frühstück kurz nach 7 Uhr, zwei Brötchen, Butter, Wurst, Käse, Marmelade in den kleinen Päckchen, eine halbe Thermoskanne Kaffee. Der Wurstaufschnitt ist wie abends, wahrscheinlich alles Schwein - Veganer würden hier verhungern (zum Glück sind Kaufhalle und Drogerie in der Nähe, da war ich gestern schon). Ich hoffe auf mehr Auswahl am Bestellautomaten vor dem Speisesaal, wenn der zweite Virusabstrich bei mir am Montag negativ ausfällt. Heute nur das Aufnahmegespräch für die verschiedenen Therapiegruppen (Rücken, Schwimmen, Fitnessgeräte und Korbflechten).

26.01.2021
Der zweite Test war wahrscheinlich auch negativ, ich kann ab morgen normal frühstücken, unten im Speisesaal (mit zugewiesenen Tisch).

27.01.2021
Nächste Woche dann ein Zwei-Stunden-Test mit mir für die "neuropsychologische" Diagnose. Was jetzt schon auf dem Plan steht: Zwei oder drei mal am Tag kleine Sportübungen für nur 20 oder 30 Minuten (Rücken, Gleichgewicht, Schwimmen). Der Tagesplan soll sich die nächsten Tage aber noch füllen.
Ich darf jetzt am Essen im Speisesaal teilnehmen und mir mein Menü selbst wählen - auf Zimmer in Quarantäne gab es (fast) jeden Tag nur Schwein (morgens, mittags, abends ... mit Beilagen).

28.01.2021
Jetzt endlich auch "vegetarisch" zur Auswahl. Was ich gut finde: Für die Schweinegerichte ist auf der Menükarte extra ein großes Schwein abgebildet. Wegen der aktuellen Situation gibt es kein Buffet, nur Ticket am Automaten am Eingang und das Essen wird am Tisch serviert. Übliches Krankenhaus- und Kantinenessen (aber genießbar).
Meine Quarantäne wurde mit dem Schwimmtraining* gestern beendet. Was auffällt: Alle Patienten laufen hier mit Turnschuhen und Trainingsanzügen herum, so etwas fehlt mir noch (ich habe nur leichte Gymnastikschuhe, eine Trainingshose und meine normale Straßenkleidung dabei). Das mit dem Sport ist nur in Kleinstgruppen und dauert allerhöchstens 15 Minuten, aber Turnschuhe mit Klettverschluß sind hier wirklich praktisch (Merken für nächstes Mal). Altersdurchschnitt der Patienten hier: 40 bis 80.
(*) Schwimmen mit so einer Schaumstoffrolle (oder anderen Behelfsmitteln) in unterschiedlichen Lagen und Richtungen. Interessanterweise wurde ich der Herrengruppe zugeteilt, damit habe ich die Damenumkleide für mich alleine.

30.01.2021
Hier liegt schon länger Schnee, die Wege in dem Kurpark neben der Klinik sind schon leicht angetaut.

Minibar
In der Drogerie war ich letztes Wochenende schon, die Kaufhalle heute Vormittag war doch etwas voll und unangenehm. Die Straße runter zu den Einkaufsmärkten und Discountern wird von mehreren Patienten der drei Kliniken in dem Ort genutzt (das sehe ich an den Spuren im Schnee und die höchst "verdächtigen" Menschen, die mir entgegenkommen), für alles, was es in der Klinik nicht gibt (z.B. Schokoladenkekse oder Handseife und Cremes). [Anm. der Verfasserin: Den kleinen Kiosk in der Klinik, unweit der Rezeption, habe ich erst später bemerkt.]
Gestern habe ich das erste Mal im "Fitness-Studio" der Rehaklinik an den Geräten trainiert, ungünstigerweise mit festen Winterschuhen (keine Turnschuhe dabei). Die Gymnastikschuhe (die ich noch aus der Tagesklinik habe) sind dafür ungeeignet, wegen der schweren Gewichte an den Geräten (sind eben nur für leichte Gymnastik gedacht).

31.01.2021
Das Wetter: Die Schneedeckecke ist nicht mehr ganz so dicht, der Boden und die Wege im angrenzenden Kurpark sind aber noch gefroren über Nacht. Aktuell blauer Himmel und Sonnenschein, Temperatur leicht im Minus (ich war schon den frühen Vormittag spazieren).

03.02.2021
Die Phase der schlaflosen Nächte, nach 8 Monaten ohne Kontakt sende ich meinem Ex-Freund eine Nachricht. Ich wünschte, er würde auch in so einer Klinik stationär einen Drogenentzug machen, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen: "Can I remove this number from my contacts?"

04.02.2021
Neuropsychologische Tests sind: Zahlen verbinden, Wörter merken, Wegstrecke planen, so abstrakte Formen und Muster aus dem Gedächtnis nachzeichnen (das war bei mir doch stark auffällig) und das mit dem Brett, drei Holzstäbe und drei Kugeln (so wie für Schimpansen im Labor, siehe "Planet der Affen" oder eine andere Filmszene). Neuropsychologisches Training ist das mit dem Computer, den Verkehrszeichen und schnell ganz große, bunte Tasten drücken. Kognitives Training ist aktuell so wie "Sokoban" (Kisten schieben) als Brettspiel.
Im Gegensatz zu meinem Psychiatrieaufenthalt vor genau zwei Jahren, ist hier nichts aufwühlend, ich habe eher Muskelkater, wegen haufenweise Sport (es geht überraschenderweise). Mein Cholesterin ist zu hoch, mir wurde schon eine "Ernährungsberatung" angeboten. (*die_augen_wegdreh*)

07.02.2021
Schon Schneechaos? Hier hat es nur die Nacht geschneit, der Ort unterhalb von Leipzig liegt auch südlich des prognostizierten Schneebands im Wetterbericht.
Jetzt habe ich auch mal das Café unten in der Klinik ausprobiert, ein Stück Mandarinenschmandkuchen und Cappuccino zum Mitnehmen den Sonntag Nachmittag. Es sind jetzt auch mehr jüngere Patienten da, als noch vor ein oder zwei Wochen. Die Gruppen für die einzelnen Therapien und Behandlungen (Ergo und Sport) sind aber nie fest, immer abwechselnd andere Teilnehmer. Das ist eine Rehaklinik, in der Menschen auf Krücken wieder Laufen lernen (von Schlaganfall bis Tumor ist alles dabei).

08.02.2021

Schneebilder austauschen
Das Foto ist der Blick auf die Terrasse (hinter der Glastür) auf die verschneite Glaspyramide über dem kleinen Hallenschwimmbad im 1. Untergeschoß. [Anm. der Verfasserin: Ich bin den nächsten Tag darunter durchgeschwommen.] Von den Therapeuten sind heute morgen einige nicht da. Das ich den Sport um 7:30 Uhr (vor dem Frühstück) absichtlich verschlafen habe, ist vielleicht noch nicht mal aufgefallen. Ich war kurz draußen, das sind locker 30 bis 40 cm Neuschnee und nur auf dem Klinikgelände etwas geräumt.

09.02.2021
In der Ergotherapie einen Korb flechten, meine Entlassung ist nächste Woche und ich habe in den zwei Stunden bis jetzt gerade mal den Boden fertig. Wenn die Ergotherapeuten nicht krank werden oder es fällt noch mehr Schnee oder andere Gründe, die zum Ausfall führen, bleiben mir vielleicht noch so drei Arbeitsstunden.
Aus der Sozialberatung: Den Antrag auf Teilerwerbsminderungsrente sollte ich möglichst schon jetzt stellen. Wenn ich die nächsten zwei Jahre nichts mehr in die Rentenkasse einzahle, verliere ich den Anspruch darauf. Ob die dann von der Rentenversicherung genehmigt wird, ist ein anderes Thema, weil körperlich habe ich ja nichts, nur psychisch.
Anderes Thema: Schwimmen um 11 Uhr, Mittagessen um 12 Uhr. Wer stellt den Therapieplan zusammen, ein Computer? Das ist so fast unmöglich für Frauen zu schaffen, ich brauche mehr extra Zeit für die Nachbereitung zurück auf dem Zimmer: Duschen, die langen Haare waschen, kämmen und trocknen und den Chlor sorgfältig mit klaren Wasser aus dem Bikini spülen (weil das Material dann irgendwann sonst durchsichtig wird ... regelmäßiges Schwimmtraining vor vielen Jahren).

11.02.2021
Ergotherapie: Vielleicht könnte ich auch einen Teller oder eine Schale daraus flechten. Hier gibt es auch ein Regal für Flechtkörbe ohne oder verlorenen Besitzer. (Aber ich will unbedingt endlich einen beenden und mit nach Hause nehmen ... den aus der Tagesklinik konnte ich schon nicht abschließen.)

13.02.2021
Notiz: FFP2-Masken - Die Dinger sollten nicht durchgehend länger als zehn Tage getragen werden, besser nur fünf (eigene Klinik-Erfahrung).
Heute mal Action in der Klinik, Feueralarm gegen 14 Uhr den Sonnabend. Am Sammelplatz fanden sich dann auch nur die üblichen 10 oder 20 bis 30 Raucher ... ganz gemächlich. Aber die Feuerwehr mit drei bis vier Fahrzeugen und Blaulicht war ziemlich schnell vor Ort. Angeblich ist ein Mitarbeiter "aus Versehen" an den Brandmelder gestoßen.

16.02.2021
Mir wurde eine "Fahrprobe" nahegelegt. Die Ergebnisse der ersten neuropsychologischen Tests waren doch etwas grenzwertig. Hätte ich da einen Wert unterschritten, wäre das vielleicht in dem Abschlußbericht gelandet. Neuropsychologische Therapie ist aktuell nur noch am Computer Auto fahren und Knöpfe drücken (bin schon dreimal zu schnell gefahren, zu viel Input) ... vielleicht etwas ungünstig, wenn ich das Wochenende vorher auf dem Handy "Road Rash" spiele und wild auf dem Gamepad herumklicke und die ganzen anderen Gegner vom Motorrad kicke.
Gedanken: Ich werde doch Donnerstag hier abgeholt? Frühstück geht bis 8:45 Uhr, Zimmer räumen wahrscheinlich vorher, dann warten in der Lobby (diese Prozedur sehe ich jeden Tag, wenn ich zum Frühstück gehe).

17.02.2021

Jetzt ist es eine Schale
Jetzt ist es eine Schale geworden.

18.02.2021
Zimmer bis 7:45 Uhr Frühstück bis 8:45 Uhr, und warten... Mein monatliches Datenvolumen im Mobilfunkvertrag ist mit dem letzten Abend in der Klinik aufgebraucht, das ist die Gelegenheit, endlich meinen VPN-Server über das unverschlüsselte WLAN für Patienten in der Lobby zu testen.

Vier Wochen in der Rehaklinik ... mit all den älteren Menschen, Rollatoren und Rollstühlen - das ergibt einen ganz anderen Blickwinkel auf die aktuelle Virus-Pandemie. Wir sind eins, wir sind zusammen und Mitgefühl ist enorm wichtig!

[10.02.21 / 20:56] Ich muß meine aktuelle Funkstille aus der "Rehab Clinic"* doch unterbrechen ... die Praxis in München hat sich per Telefon bei mir gemeldet, sie gehen die Kontaktdaten bzw. Telefonnummern für die Warteliste auf die geschlechtsangleichende Operation durch und fragen nach dem aktuellen Status. Mein Termin im September 2021 - den ich bis jetzt emotional nicht geschafft habe, abzusagen - wäre dann, nach über vier Jahren Wartezeit, dran gewesen. Ich bin schon operiert. Auch wenn ich nach wie vor immer noch den Gedanken mit mir herumtrage, eine dritte und aufwendige Korrekturoperation zu wagen - und den letzten Funken Hoffnung, vielleicht doch noch irgendwann ganz normal als Frau Sex zu haben, nicht aufgeben kann - so wird dennoch meine Position auf der Warteliste gestrichen. Es bleibt die Option, mit dieser oder einer anderen Praxis einen neuen Termin auszumachen, um überhaupt herauszufinden, ob das bei mir da unten noch chirurgisch möglich ist.

(*) Interessanterweise bedeutet rehab clinic im Englischen etwas leicht anderes, als im Deutschen erwartet ... aber ich mag die Version, wie meine Rockstars in einer "Entzugsklinik" zu sitzen, um "clean" zu werden. Meinen mitgebrachten Tablettenvorrat habe ich mittlerweile aufgebraucht: die erste Woche hätte ich fast sieben Nächte ohne durchgehalten, die zweite Woche mußte ich die allerletzte Dosis rationieren, die dritte Woche ist die (schlaflose) Hölle und die vierte Woche steht mir noch bevor...

[13.01.21 / 20:03] Der erste Eintrag im neuen Jahr, der erste Eintrag aus dem Untergrund, das geheime Tagebuch, der Spiegelserver, das Deep Web ... und so weiter. Aus dem Plan, in der Nacht zu Neujahr ein DJ-Set online zu streamen, ist leider nichts geworden. Abgesehen davon, daß ich auf meinem Laptop zuerst ein komplettes Upgrade des Linux-Betriebssystems durchführen mußte, um überhaupt erst eine neue Version der DJ-Software mit den nötigen Packages für den Controller zu nutzen, saß ich den ganzen Abend an dem kleinen Couchtisch und habe stundenlang die Playlist bearbeitet. Momentan umfaßt diese immer noch 50 Stunden Musik mit etwas über 500 Musiktiteln aus allen meinen Radiosendungen zwischen 1999 und 2015. Zuviel ... außer ich lege nonstop ein ganzes Wochenende auf (und dabei ist mir vollkommen entgangen, daß andere DJs aus meinem Szeneumfeld genau das den Silvesterabend gemacht haben - sogar mit Online-Schaltung zu interessanten Bands, die ich mag und kenne).
Die Tage danach ... die mystischen Tage und Nächte zwischen Sonnenwende, Neujahr und der ersten Kalenderwoche, auch bekannt als die "Rauhnächte" (hier keine Kleidung waschen). Ich sitze vor meinen drei Computerbildschirmen, ein Terminal eingeloggt auf meinem angemieteten Server weit entfernt in einer Großstadt, mein Laptop (genau der aus dem Textabsatz eben) und der Rechner an meinem PC-Tisch. Zeilen mit grünen Buchstaben auf schwarzen Hintergrund rattern in den Konsolenfenstern herunter, der Bildschirm des Laptops am Couchtisch zeigt zusätzlich noch die Oberfläche des Netzwerkanalyseprogramms Wireshark und zeichnet alle Pakete zwischen mir, meinem WLAN und dem Server irgendwo in Deutschland auf. "OpenVPN" steht in der Spalte für das verwendete Protokoll - ein Wahnsinnsgefühl, zu wissen, es funktioniert! Alle Pakete zwischen dem im WLAN eingeloggten Laptop (oder wahlweise meinem Smartphone) werden verschlüsselt im Tunnel zu meinem externen Server übertragen - und von dort aus weiter ins Internet (und zurück).
Hintergrund der ganzen Sache und der ganzen Bastelei an einem eigenen VPN-Server, ist der Gedanke, wenn ich demnächst ein paar Wochen stationär in einer Klinik bin und mich dort in das WLAN für die Patienten einlogge, dann brauche ich unbedingt ein funktionierendes VPN. Als Rückfallösung habe ich sicherheitshalber auf meinem Smartphone (und auf meinem Laptop sowieso seit längerem) den Tor Browser installiert, dieser sollte im Bedarfsfall die von mir aufgerufenen Internetseiten vollständig über HTTP absichern bzw. verschlüsseln. Mails gehen über TLS und Remote-Zugang auf meinen Server über SSH ... wie stehe ich denn sonst da, wenn ich ich mich als "IT-Testerin für sicherheitsrelevante Software" vorstelle? [Anm. der Verfasserin: Mein Blog im Internet sollte jetzt auch fehlerfrei über "https://" funktionieren.]

Dann wäre da noch die andere Sache ... beim Ausräumen der Wohnung unter mir, sind alte Bücher aus der NS-Zeit aufgetaucht, wem genau die mal gehört haben, wer die damals beschafft hat und warum die die ganzen Jahrzehnte von Kriegsende bis jetzt immer noch in dem Bücherschrank lagen, weiß ich nicht. Auf alten Familienfotos sehe ich vieles aus der Zeit, Kriegsbilder, Männer in Wehrmachtsuniformen, gefallene Großonkels auf Familienbesuch, die ich nie kennengelernt habe. An sich nichts Ungewöhnliches, ich bin nun mal in Deutschland geboren. Militaria kann ich verkaufen oder sammeln (ich hätte da noch was im Schrank...) aber diese drei, vier Bücher? Purer Haß, voller Gedankengift über "Rasse und Seele" und "Wie erkenne ich einen Juden, wenn ich ihm auf offener Straße begegne?" (Wahrscheinlich, um ihn dann schnellstmöglich totzuschlagen.)
In mir vibriert es, für die antifaschistische Sache! ich muß diese Bücher verbrennen, vernichten, auf daß nie wieder irgendjemand diesen Scheiß liest und sich davon beeinflußen läßt! Allein, wenn schon das erste Kapitel mit "Die Juden" anfängt ... aber werde ich dann nicht genauso?
Früher zu der finsteren Zeit wurden auch eine Menge Bücher verbrannt - und die Menschen damals waren auch sehr von ihrer Sache überzeugt. Und könnte es nicht auch sein, daß ich gerade Beweise vernichte? Um möglichst jede Verbindung zu dieser Zeit zwischen 1933 und 1945 und zu meinen Familienahnen zu kappen? Ich weiß nicht, was damals passiert ist, ich weiß nur von jetzt, mir wurde meine Nase gebrochen, ich wurde in der Straßenbahn angemacht: "Endstation Auschwitz" und ich wäre ganz bestimmt "damals vergast worden." Und ich war in Israel - und ich habe mich da unter den Menschen sehr wohlgefühlt. Die Bücher müssen weg.
Verbrennen kann ich die so einfach nicht im Garten, vielleicht ist durch die Lettern noch Blei in der Druckerschwärze, unter Umständen könnte noch dunkler Rauch aufsteigen und besorgte Nachbarn hinter ihren Gardinen und Fenstern die Nummer des Ordnungsamtes rufen. Ich stehe den Sonnabend in der Küche und lasse die Bücher eins nach dem anderen in den Papierschredder gleiten (so ein "Aktenvernichterding"). Ausgerechnet das Buch mit dem speziellen und beschichteten Fotopapier - ausgerechnet die Seite mit dem Schwarz-Weiß-Foto des "aschkenasischen, jüdischen Mannes" bleibt stecken und verheddert sich in dem Reißwolf. Ich muß es herausziehen, die untere Buchseite hängt in Fetzen, die obere Hälfte mit dem Portraitfoto von ihm ist intakt - als würde er mir sagen: Vergiß mich nicht. Ich schaue mir auch noch die andere Seite mit der bildhübschen und jungen, jüdischen Frau an ... beide sind schon lange tot. Nach Säuberung der Reißzähne von den Papierfetzen, gehe ich mit meiner Arbeit konsequent weiter. Die Unmengen von alten und vergilbten Papierstreifen mit einzelnen Buchstaben, gesetzt in Frakturschrift, landen in der Papiertonne vor dem Haus. Vier Bücher - von dieser Art - weniger in der Welt ... ich selbst habe mich nur getraut, die Bücher verkehrt herum auf dem Küchentisch liegend, die einzelnen Seiten herauszureißen, um auf keinen Fall irgend etwas von diesem niedergeschriebenen Nazi-Gift in meinen Kopf und meine Gedanken einfließen zu lassen.

Nach dieser dunklen Geschichte etwas Erheiterndes: Neue Schuhe für den Sommer! Ein Paar fabrikneue Sandaletten aus dem Onlineversand, mit Keilabsatz und rundherum einstellbar (Klett- und Schnallenverschluß) für meine Problemfüße (40, breit, hoher Knochen), superbequem und äußerst praktisch. Ich gehe fest davon aus, daß ich (und wir alle) diesen Sommer bald wieder verreisen können...

[Text freigegeben am 10.02.21 - Anm. der Verfasserin.]

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Kommentar:

[05.12.22 / 17:34] Daniele1992: Hallo Morgana

Mail ist heute rausgegangen

LG Daniele

[13.11.22 / 09:33] Daniele1992: Hallo Morgana

aktuell keine schöne Situation. Ich schreibe Dir noch eine Mail dazu.

LG Daniele

Morgana LaGoth: Einige Kommentare müssen auch nicht allzu öffentlich sein …

[13.05.22 / 09:15] Daniele1992: Hallo Morgana,

Tolle Reisebericht von Deiner neusten Reise nach Paris. Macht grosse Lust auch wieder dort hinzufahren um sich von der Stadt inspirieren zu lassen.

Tolle Neuigkeiten.NeuerJob. Klasse! Freue mich für Dich.

Liebe Grüße
Daniele

Morgana LaGoth: Danke. Endlich wieder verreisen … lange darauf gewartet. Lebendig bleiben, solange es noch geht.

[24.12.21 / 20:55] Daniele1992: Hallo Morgana,

Ich denke an Dich und wünsche Dir frohe Weihnachten und ein schönes neues Jahr 2022.

Liebe Grüße
Daniele

Morgana LaGoth: Vielen Dank, ich wünsche dir ebenfalls ein schönes, neues Jahr.

[25.09.21 / 14:59] Daniele1992: Hallo,

eine Chance etwas Neues zu machen. Neue Perspektiven. Urlaubsträume, die bald real werden können. Nicht so schlecht. Freue mich für Dich. LG Daniele.

Morgana LaGoth: Danke dir.

[11.11.20 / 09:12] Daniele1992: Hallo Morgana

Ich habe Dir eine Mail geschickt.

Lg
Daniele

Morgana LaGoth: Hey ... vom Lenkrad aus mit der Hand winken, von einem MX-5 zum anderen. *freu*

[30.07.20 / 22:03] Daniele1992: Guten Abend

das habe ich sehr gerne gemacht. Zum Einen interessiert mich das Thema und zum Anderen hast Du wirklich sehr lebendig und spannend geschrieben. Da wollte ich Alles lesen und wollte Dir schreiben, das mir Dein Blog besonders gut gefallen hat (Die eigentliche Arbeit hattest Du ja mit dem Verfassen des Blogs). Wenn Du magst können wir den Kontakt gerne per Mail halten. Viele Grüße Daniele

Morgana LaGoth: Mail-Adresse steht oben bei "kontakt" - bei weiteren Fragen, gerne.

[30.07.20 / 12:44] Daniele1992: Guten Morgen,
vielen Dank für Deinen tollen Blog. Ich habe ihn in den letzten Wochen komplett gelesen. Meistens konnte ich gar nicht aufhören zu lesen. Fast wie bei einem sehr spannenden Roman. Ich habe dabei Deine genauen Beobachtungen und Beschreibungen sehr genossen. Deine vielen Ausflüge in die Clubs und zu den Festivals oder Deine Streifzüge d durch die Geschäfte beschreibst Du immer aus Deiner Sicht sehr anschaulich und spannend. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, das alleine zu erleben, häufig auch mit einer gewissen Distanz. Ich kenne ich von mir sehr gut. Highlights sind Deine Reiseberichte. Deine Erlebnisse an den unterschiedlichsten Orten auf der Welt. Vielen Dank dafür. Vielen Dank auch das Du Deinen Weg zu Deinem waren Geschlecht mit uns Lesern teilst. Deinen Weg Deine Gefühle Deine zeitweisen Zweifel. Das ist sehr wertvoll auch für uns Andere, denn es ist authentisch und sehr selten. Du bist einem dadurch sehr vertraut geworden. Für mich ist eine gefühlte grosse Nähe dadurch entstanden. Umso mehr schmerzt es mich von Deinen Rückschlägen zu lesen. Von Deinem Kampf zu Deinem wahren Ich. Von Deinem Kampf umd Liebe, Zährlichkeit und Akzepzanz und Anerkenung. Von Deiem mitunter verzweifeltem Kampf nach Liebe und Anerkennung durch Deinen Exfreund. Leider vergeblich. Dein Kampf um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Deine aktuell missliche Lage. Ich glaube dass Du nicht gescheitert bist. Du hast viel Mumm und Hardnäckigkeit bewiesen Deinen Gang zu Dir selbst zu gehen. Du hast auch einen guten Beruf der immer noch sehr gefragt ist. Vielleicht kann ja nach dieser Auszeit und etwas Abstand ein Neuanfang in einer anderen Firma, wo Du keine Vergangenheit als Mann hattest gelingen. Ich wünsche das Dir ein Neuanfang gelingt und drücke Dir ganz fest die Daumen. Daniele

Morgana LaGoth: Da liest sich tatsächlich jemand alles durch? Das ist mittlerweile schon ein kompletter Roman mit mehreren hundert Seiten! Danke dir, für deinen Kommentar (und die aufgebrachte Zeit).

[05.10.19 / 17:11] Drea Doria: Meine liebe Morgana,
bin 5 T post all-in-one-FzF-OP. Deine guten Wünsche haben geholfen. Der Koch ist immernoch noch super. Alle hier sind herzlich und nehmen sich Zeit.
Herzlich
Drea

Morgana LaGoth: Dann wünsch ich dir jetzt noch viel mehr Glück bei deiner Genesung!

[14.06.19 / 12:57] Drea Doria: Meine liebe Morgana,

vielen Dank für Deine offenen und kritischen Erlebnisberichte. Ich bin in 3 Monaten in Sanssouci zur FzF-OP. Ich denke auch, was kann schon schief gehen, status quo geht nicht und irgendwas besseres wird wohl resultieren. Wenn es Dich interessiert, halte ich Dich informiert. Drücke mir die Daumen.
Herzlich
Drea

Morgana LaGoth: Ich wünsche dir für deine Operation viel Glück. (Sollte der Koch nicht gewechselt haben, das Essen da in der Klinik ist richtig gut!)

[14.11.17 / 20:13] Morgana LaGoth: Nutzungsbedingungen für die Kommentarfunktion: Die Seitenbetreiberin behält sich das Recht vor, jeden Kommentar, dessen Inhalt rassistisch, sexistisch, homophob, transphob, ausländerfeindlich oder sonstwie gegen eine Minderheit beleidigend und diskriminierend ist, zu zensieren, zu kürzen, zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten. Werbung und Spam (sofern die Seitenbetreiberin dafür nicht empfänglich ist) wird nicht toleriert. Personenbezogene Daten (Anschrift, Telefonnummer) werden vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht.

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